Journalismus und sein Publikum - (k)eine schwierige Beziehung?

Interview mit BMBF-Projektkoordinatorin Prof. Dr. Helena Stehle und Teilprojekt-Leiterin Prof. Dr. Hanne Detel

Likes oder Hasskommentare – seit Mai 2021 hinterfragt ein BMBF-Verbundprojekt des Kleinen Fachs Journalistik die Beziehung zwischen Journalistinnen und Journalisten und ihrem Publikum. Die Forscherinnen haben zahlreiche interessante Erkenntnisse gewonnen.

Im Interview: Professorin Dr. Helena Stehle, Verbundkoordinatorin des BMBF-Projekts „Journalist*innen und ihr Publikum im digitalen Zeitalter. Wechselseitige Erwartungen und ihre Folgen für Journalismus-Publikums-Beziehungen und öffentliche Meinungsbildung“, und Professorin Dr. Hanne Detel, Leiterin des Teilprojekts Kempten.

Seit 2021 gehen Sie im Verbund der Frage nach, warum manche Journalismus-Publikums-Beziehungen gelingen und andere scheitern – und welche Folgen dies z. B. für die öffentliche Meinungsbildung in einer Demokratie haben kann. Gibt es schon erste Ergebnisse?

Prof. Dr. Helena Stehle

Prof. Dr. Helena Stehle, Koordinatorin des BMBF-Verbundprojekts und Leiterin des Teilprojekts in Münster, Universität Münster, Institut für Kommunikationswissenschaft. Sie ist seit April 2023 Professorin für Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt Strategische Kommunikation am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Münster.

Sandra Wolf

Prof. Dr. Helena Stehle: Unsere ersten beiden Erhebungsphasen im Verbundprojekt – Leitfadeninterviews und Q-Sort-Befragungen jeweils sowohl mit Journalistinnen und Journalisten als auch mit ihrem Publikum – haben sehr interessante und aufschlussreiche Erkenntnisse erbracht, die wir im Moment in der dritten Erhebungsphase vertiefen. So sehen wir erstens wie vielfältig die Erwartungen sind, die Schreibenden und ihr Publikum aneinander und an den Austausch miteinander haben. Sie reichen von Erwartungen an Höflichkeit und Umgangsformen über den Bedarf nach konstruktivem Feedback und Partizipation bis hin zum Wunsch nach Humor und nicht zu viel Ernst im Austausch. Wir konnten zweitens sowohl auf Seiten der Schreibenden und des Publikums sog. Erwartungstypen identifizieren, die den bisherigen Forschungsstand um neue Facetten erweitern. Drittens untersuchten wir, welche Reaktionen auf beiden Seiten drohen, sollten Erwartungen verletzt werden. Auf Publikumsseite kann dies im Extremfall den Abbruch der Journalismus-Publikums-Beziehung bedeuten, im Journalismus zum Beispiel die Schließung von Kommentarbereichen oder eine geringere Bereitschaft der Schreibenden, sich mit dem Publikum auszutauschen.

Bei Ihren Forschungen nehmen Sie gerade auch aktuelle Entwicklungen in den Blick. Welche Auswirkungen haben denn zum Beispiel technische Veränderungen von Kommunikationsplattformen?  

Prof. Dr. Hanne Detel

Prof. Dr. Hanne Detel, Leiterin des Teilprojekts an der Hochschule Kempten, Fakultät Soziales und Gesundheit (zuvor Universität Tübingen). Seit September 2023 ist sie Professorin für digitale Kompetenz an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Kempten.

Prof. Dr. Hanne Detel: Digitale Kommunikationsplattformen haben die Möglichkeiten zu direktem Kontakt und Austausch zwischen Journalismus und Publikum multipliziert und zum Teil erst ermöglicht. Wo vorab vorrangig Briefe an Redaktionen geschickt wurden, können beide Seiten heute auf vielfältigen Wegen miteinander in Kontakt treten. Dies bringt auf der einen Seite große Chancen mit sich, wenn Journalistinnen und Journalisten ihr Publikum z. B. in die Themenauswahl oder auch in die Recherche unmittelbar einbinden oder Publikumsmitglieder Rückfragen oder Verbesserungsvorschläge direkt an die Schreibenden richten können. Auf der anderen Seite gehen damit auch deutlich negative Aspekte wie beispielsweise Hasskommentare und Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten oder auch zwischen Publikumsmitgliedern einher. Wir betrachten daher im Verbundprojekt explizit den digitalen Kontext der Journalismus-Publikum-Beziehung und sehen in den Erhebungen, dass sowohl Journalistinnen und Journalisten als auch ihr Publikum beide Seiten wahrnehmen.

Der Transfer Ihrer Erkenntnisse in die Fach-/Öffentlichkeit ist integraler Bestandteil Ihres Projektes. In den vergangenen zwei Jahren haben Ihre Kolleginnen und Sie das Projekt u. a. in Toronto und Paris vorgestellt. Im Juni präsentiert das Team weitere Ergebnisse, dieses Mal bei der Jahrestagung der ICA (International Communication Association). Wie ist die Resonanz auf Ihre Ergebnisse? Und gibt es anderswo ähnliche Projekte?

PD Dr. Nicole Podschuweit

PD Dr. Nicole Podschuweit, Leiterin des Teilprojekts in Erfurt, Universität Erfurt, Seminar für Medien- und Kommunikationswissenschaft. 

Christof Mattes

Prof. Dr. Helena Stehle: Wir freuen uns sehr, dass unsere Erkenntnisse auf großes Interesse in der Fachöffentlichkeit stoßen und wir sie bei vielen Tagungen vorstellen konnten und können. Ein schöner Effekt ist dabei nicht nur, dass wir mit anderen Forschenden über unser Thema diskutieren können, sondern sich vor allem auch Verbindungslinien zu weiteren Themen und Projekten ergeben. So konnten wir uns mit nationalen und internationalen Teams vernetzen, die an angrenzenden Fragestellungen arbeiten und planen zum Beispiel gemeinsame Publikationen. Was uns ergänzend sehr freut, ist, dass sich auch das Berufsfeld und die Öffentlichkeit für unser Thema interessieren. Dieses Interesse konnten wir beispielsweise mit unserer öffentlichen Ringvorlesung, die im letzten Sommer in Erfurt und online stattfand, aufgreifen und in zahlreichen Gesprächen mit Personen aus dem Journalismus und Redaktionen. Die aus all diesen Kontakten entstandenen Ideen und Impulse sind für uns nicht nur für das laufende Projekt wertvoll, sondern auch für künftige Forschung und Lehre.

Herzlichen Dank für das Interview und weiterhin viel Erfolg!

(Das Interview erfolgte schriftlich am 16.4. 2024, Fragen: Katrin Schlotter)

Kurzinfo zum BMBF-Verbundprojekt 

Seit Mai 2021 wird das BMBF-Verbundprojekt „Journalist*innen und ihr Publikum im digitalen Zeitalter. Wechselseitige Erwartungen und ihre Folgen für Journalismus-Publikums-Beziehungen und öffentliche Meinungsbildung“ im Rahmen der BMBF-Förderlinie „Kleine Fächer – Zusammen stark“ gefördert. Beteiligt sind die Universitäten Münster und Erfurt und die Hochschule Kempten (zuvor Universität Tübingen).

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