Karl Jaspers (1883–1969) zählt zweifelsohne zu den bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Mit der „Karl-Jaspers-Gesamtausgabe“ (KJG), die bis 2029 abgeschlossen sein wird, ist sein Werk erstmals umfassend zugänglich – kritisch kommentiert und in den historischen wie philosophischen Kontext eingeordnet.
Dr. Dirk Fonfara ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Karl-Jaspers-Forschungsstelle der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
Dr. Herbert von Bose/Heidelberger Akademie der Wissenschaften
Das im April 2012 gestartete Akademieprojekt „Karl-Jaspers-Gesamtausgabe“ wird von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen realisiert. Zwei Arbeitsstellen in Heidelberg und Oldenburg arbeiten eng mit der Karl Jaspers-Stiftung in Basel, dem Schwabe Verlag sowie namhaften Partnern im In- und Ausland zusammen. Das gemeinsame Ziel: Werk und Wirken des einzigartigen Denkers gründlich zu erforschen und als vernetztes Ganzes verfügbar zu machen, inklusive der wichtigsten bislang unpublizierten Nachlasstexte und Korrespondenzen. Insgesamt 35 Bände wird die Gesamtausgabe umfassen – etliche Bände sind bereits verfügbar, auch im Open Access, was den Zugang zu Jaspers’ Denken sowie die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seinen Werken erleichtert.
35 Bände zu Lebensfragen
Dr. Dirk Fonfara
Dr. Herbert von Bose/Heidelberger Akademie der Wissenschaften
„Eine Gesamtausgabe eines Philosophen auf den Weg zu bringen, ist eine einmalige Gelegenheit. So etwas passiert vielleicht einmal in hundert Jahren“, sagt Dr. Dirk Fonfara, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Karl-Jaspers-Forschungsstelle der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. „Dank der neu erschlossenen Quellen können wir Jaspers’ Werk absichern und auf den neuesten Forschungsstand bringen. Wir machen es Forschung und Öffentlichkeit zugänglich, mit Einleitung und Kommentaren. Hinzu kommen Verweise auf Briefe, die Jaspers an seine Familie, an andere Denkerinnen und Denker und an Verleger gerichtet hat. Auch Mitschnitte seiner Vorträge und Radiosendungen fließen in die Gesamtausgabe ein. So erfahren wir noch genauer, wie Jaspers’ Werke überhaupt zustande gekommen sind – und welche Wirkung sie hatten.“ Gut die Hälfte der Gesamtausgabe hat das Forschungsteam der beiden Arbeitsstellen bereits fertiggestellt, allein für 2025 sind vier weitere Bände geplant. Die KJG ist eine wertvolle Ressource für alle, die sich mit den relevanten Fragen des Lebens auseinandersetzen möchten: Sie lädt dazu ein, die Gedanken und Weitsicht eines Denkers zu entdecken, der uns heute mehr denn je zu sagen hat.
Philosophie geht uns alle an
Karl Jaspers in seiner Bibliothek
Karl Jaspers-Stiftung, Basel, Foto Fritz Eschen
Karl Jaspers, 1883 in Oldenburg geboren, begann seine akademische Laufbahn in der Medizin und Psychologie, bevor er sich der Philosophie zuwandte. Dabei überwand er die Grenzen zwischen Disziplinen und öffnete Dialoge über Denkrichtungen hinweg. „Jaspers sträubte sich zeit seines Lebens gegen eine elitäre Professorenphilosophie. Für ihn ist Philosophie keine Wissenschaft – sie geht weit darüber hinaus. Sie ist eine Denkhaltung, eine Lebensform. Philosophie geht uns alle an, sie macht etwas mit uns, wenn wir uns darauf einlassen und uns bewusst dazu entscheiden“, erläutert Fonfara.
Jaspers’ Werk ist geprägt von einer intensiven Reflexion über das menschliche Dasein, die Grenzen des Wissens und die Verantwortung des Einzelnen. In Büchern wie „Psychologie der Weltanschauungen“ (1919) oder „Von der Wahrheit“ (1947) formulierte er zentrale Fragen, die bis heute an Aktualität nichts verloren haben: Wie findet der Mensch Orientierung in einer komplexen Welt? Welche Rolle spielt die Freiheit des Einzelnen in der Gestaltung von Gesellschaft und Geschichte? Seine „Philosophie“ (1932), ein dreibändiges Hauptwerk, ist bis heute ein Klassiker sowohl der Existenzphilosophie als auch der Metaphysik und inspiriert dazu, die eigene Existenz kritisch zu reflektieren und zu erhellen.
Existenzerhellung durch Grenzsituationen
Jaspers ging davon aus, dass sich erst in existenziellen Grenzsituationen wie Tod, Schuld oder Leiden zeigt, was der Mensch ist. In der Konfrontation mit diesen unausweichlichen Daseinserfahrungen eröffnet sich ihm die Möglichkeit, die eigene Endlichkeit aktiv anzunehmen oder aber in Verbitterung, Auflehnung oder Resignation zu verharren. „Dass sich Jaspers intensiv mit Grenzsituationen auseinandersetzte, hat sicherlich auch mit seiner Biografie zu tun: Er litt an einem chronischen Lungenleiden, mit dem er sich zeit seines Lebens arrangieren musste“, sagt Fonfara.
Philosophie muss politisch sein
In späteren Werken hat Jaspers seine Existenzphilosophie zunehmend für politische Fragen geöffnet, darunter vor allem die Aufarbeitung der NS-Zeit in der Schrift „Die Schuldfrage“ (1946). „Ausgehend von philosophischen Themen betätigte sich Jaspers zusehends als politischer Schriftsteller. Er hat maßgeblich in die gesellschaftlichen Debatten der neu gegründeten Bundesrepublik eingegriffen. Für Jaspers muss Philosophie auch politisch wirksam sein“, so Fonfara.
In „Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Politisches Bewusstsein in unserer Zeit“ (1958) verlässt Jaspers den nationalen Kontext und reflektiert auf die weltpolitische Lage der gesamten Menschheit. Er analysiert die atomare Bedrohung und die Krise der Freiheit – ein Thema, das leider wieder aktuell ist. „Das Atombombenbuch ist jedoch kein rein politisches Buch, sondern es versucht auch ein Appell an die Vernunft des Menschen zu sein, miteinander zu kommunizieren und an die wirklichen Gründe zu gehen und nicht auf der Oberfläche zu bleiben“, erklärt Fonfara. Einen prägnanten Einstieg in das Thema Atombombe vermitteln die Original-Mitschnitte von Jaspers’ Radiosendungen aus dem Jahr 1956.
Jaspers’ Relevanz für die Gegenwart
Welche Antworten bietet Jaspers auf die Fragen nach Weltfrieden, individueller Verantwortung und der Möglichkeit einer Umkehr? Zu diesem aktuellen Thema fand Ende Januar 2025 im Rahmen des „Peace Forum Basel“ ein interdisziplinäres Symposium zum Atombombenbuch von Karl Jaspers statt, veranstaltet unter Mitwirkung der KJG. In der Podiumsdiskussion, moderiert von Prof. Anton Hügli, diskutierten zwei Philosophen (Prof. Volker Gerhardt, Prof. Reinhard Schulz) und der Friedens- und Konfliktforscher Dr. Ulrich Kühn, wie Jaspers’ Ideen auf die heutigen Herausforderungen angewendet werden können. Das Publikum war eingeladen, aktiv mitzudenken, Fragen zu stellen und gemeinsam mit den Experten nach Wegen aus der aktuellen Bedrohungslage zu suchen. Das hätte Jaspers sicherlich gefallen.
Autorin: Katrin Schlotter
Karl Jaspers, Heidelberg 1930
Karl Jaspers-Stiftung, Basel
Karl Jaspers
Karl Jaspers-Stiftung, Basel
Brief Karl Jaspers an die Eltern (Auszug), 27. August 1938
Die KJG präsentiert Jaspers’ umfangreiches Œuvre erstmals als Ganzes: In drei Abteilungen – Werke, Nachlass, Briefe – kommen alle Schriften letzter Hand, einschlägige posthume Veröffentlichungen sowie in Auswahl weitere, bislang unpublizierte Nachlasstexte und Korrespondenzen zum Abdruck. Die Bände sind einheitlich konzipiert und enthalten neben dem Textkorpus jeweils eine Einleitung und einen Stellenkommentar. Seit 2019 sind die Bände der KJG sukzessive im Open Access verfügbar (siehe Homepage des Schwabe Verlags).
Forschungsstellenleiter Heidelberg: Prof. Dr. Dr. Markus Enders; Prof. Dr. Dr. Thomas Fuchs
Mitarbeiter: Dr. Dirk Fonfara (Projektkoordination), Dr. Dominic Kaegi, Dr. Bernd Weidmann
Forschungsstellenleiter Göttingen: Prof. Dr. Reinhard Schulz
Mitarbeiter: Dr. Oliver Immel
In aller Kürze: Karl Jaspers (1883–1969)
Karl Jaspers (1883–1969) zählt zu den bedeutendsten deutschsprachigen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Nach dem Medizinstudium galt sein Denken zunächst der Psychopathologie und der Psychologie, dann der Existenzphilosophie und der Grundlegung einer Philosophie der Vernunft. Im nationalsozialistischen Deutschland waren Jaspers und seine jüdische Frau zahlreichen Repressalien ausgesetzt. Nach 1945 wurde er zu einem wichtigen politischen Denker und einem der prominentesten Kritiker der deutschen Nachkriegspolitik. Im Mittelpunkt seines philosophischen Werks stand nunmehr die Frage des philosophischen Glaubens. Bis zu seinem Tod arbeitete er am unvollendeten Großprojekt einer umfassenden Weltphilosophie und einer Weltgeschichte der Philosophie. Quelle: Auszug Schwabe Verlag
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