Was sind die Grundlagen unserer Kultur? Wann und wo finden wir Hinweise auf die Ursprünge des Menschseins? Und wie ging es danach weiter? Auf diese zentralen Fragen der menschlichen Evolution gibt das Akademieprojekt "The Role of Culture in Early Expansions of Humans" (ROCEEH) dezidierte Antworten, die sich sehen lassen können.
Das Akademieprojekt ROCEEH der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hat sich viel vorgenommen: Zwei Arbeitsstellen, am Forschungsinstitut Senckenberg in Frankfurt und der Universität Tübingen, gehen der Entwicklung menschlicher kultureller Fähigkeiten auf den Grund, suchen ihre Ursprünge, Spuren und Auswirkungen. Von drei Millionen Jahren bis 20.000 Jahre vor heute, von Afrika bis Eurasien!
Damit kommt die Arbeit des ROCEEH-Teams dem Auftrag des Akademienprogramms nach, kulturelles Erbe zu entdecken und zu erforschen, es in der Gegenwart zugänglich zu machen und für die Zukunft zu bewahren.
Besonderes Konzept: Biokulturelle Evolution
„Die Menschwerdung ist nicht nur eine biologische Entwicklung. Sie ist eine biokulturelle Evolution“, betont Privatdozentin Dr. Miriam Haidle, Wissenschaftliche Koordinatorin des Langzeitprojektes. „Kulturelle Handlungen beeinflussen die Umwelt, wodurch neue Bedingungen für biologische Anpassungen und kulturelle Gestaltungsspielräume entstehen. Im Lauf der menschlichen Evolution wurde die Entwicklung mehr und mehr durch kulturelles Handeln, also die soziale Weitergabe von Verhaltensweisen über Generationen hinweg, geprägt und immer vielfältiger mit der Umwelt verknüpft. Diese Verbindungen wollen wir aufzeigen!“
Viel früher als gedacht veränderten Menschen ihr Verhalten, passten sich neuen Lebensräumen an. Sie begannen, sich ihre Umwelt mit Werkzeugen anzueignen, Denk- und Lernprozesse wurden komplexer, und im Austausch entwickelte sich die Fähigkeit zur Sprache. Aus all diesen Neuerungen entstand etwas, das wir heute menschliche Kultur nennen, fasst die Paläoanthropologin zusammen.
Im stetigen Wandel: Austausch mit der Umwelt
Ein Beispiel dafür ist die Feuernutzung. „Wie wir heute wissen, haben Schimpansen keine Angst vor Feuer, sie bleiben in seiner Nähe und nutzen abgebrannte Flächen für die Nahrungssuche und raschere Fortbewegung. Es gibt erste Hinweise, dass Menschen bereits vor 1,5 Millionen Jahren das Feuer auch an andere Orte mitgenommen haben. Um 800.000 Jahre vor heute waren unsere Vorfahren in der Lage, Feuer am Brennen zu halten. Dafür mussten sie totes Holz als Brennstoff erkennen und nutzen. Es entstanden neue Aufgaben, die gemeinschaftlich gelöst werden mussten, und neue Möglichkeiten wie zusätzliches Licht, Wärme und die Erschließung von Nahrungsmitteln. Daraus ergaben sich weitere kulturelle und biologische Entwicklungen“, erklärt Haidle.
Einzigartig: Interdisziplinärer Blick auf die Menschwerdung
Um die Menschwerdung in all ihren Facetten zu erfassen, muss man nicht nur viele Jahrmillionen zurückblicken, sondern auch unterschiedliche Disziplinen berücksichtigen. ROCEEH ist eines der wenigen Projekte im Akademienprogramm, in denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Geistes- und Naturwissenschaften zusammenarbeiten. Das Langzeitprojekt verbindet das Wissen aus Archäologie, Paläoanthropologie, Paläobiologie, Geografie sowie den Digitalen Geisteswissenschaften. Die Spezialistinnen und Spezialisten am Forschungsinstitut Senckenberg in Frankfurt a.M. und an der Eberhard Karls Universität Tübingen untersuchen Werkzeuge, archäologische Befunde, menschliche Fossilien, Pollen und Tierknochen und leiten daraus grundlegende Verhaltensmuster ab – über Kultur- und Zeiträume sowie über Fächergrenzen hinweg.
Sehenswert: Internationale Sonderausstellung „Menschsein – Die Anfänge unserer Kultur“
Was die ersten Schritte der Menschwerdung auszeichnet, kann die Öffentlichkeit seit Juni 2021 in der Ausstellung „Menschsein – Die Anfänge unserer Kultur“ am Archäologischen Museum Frankfurt a.M. erfahren. Die in Kooperation mit ROCEEH entwickelte Ausstellung konzentriert sich auf den afrikanischen Kontinent und umfasst den Zeitraum von 3,3 Millionen bis eine Million Jahren vor heute, ein kleiner, aber entscheidender Ausschnitt aus der Geschichte der menschlichen Evolution und auch der Arbeit des ROCEEH-Projekts. Die Präsentation zeigt nicht nur Jahrmillionen alte Originalobjekte, sondern vermittelt an interaktiven Stationen, zu welchen weiteren Entwicklungen sie geführt haben.
„Bereits vor mehr als drei Millionen Jahren fertigten Hominine die ersten Steinwerkzeuge mit Schneidekante an. Abgüsse dieser ältesten Steingeräte der Welt sind in unserer Ausstellung zu sehen, erstmals in Europa“, so Haidle. „Unsere Vorfahren erweiterten die bis dahin übliche Werkzeugpalette, indem sie mit Werkzeugen neuartige Werkzeuge herstellen lernten. Zwischen zwei und einer Million Jahren breitete sich die Gattung Homo in mehreren Wellen von Afrika in Richtung Asien und Europa aus.“
Herzstück des Projektes: ROAD-Datenbank zu prähistorischen Fundstellen und Funden
Doch nicht nur mit der Ausstellung macht ROCEEH die Schritte zur Menschwerdung sichtbar, sondern auch durch ihre umfangreiche, online zugängliche Datenbank. Die englischsprachige „ROCEEH Out of Africa Database (ROAD)“ bietet einen Überblick über prähistorische Fundstellen und Funde. Diese hilft der Wissenschaft und der interessierten Öffentlichkeit dabei, Informationen über archäologische und paläoanthropologische Fundstellen zu vergleichen, zu kombinieren, zu analysieren und visualisieren. Die gesammelten Informationen zu den einzelnen Fundstellen können als sogenannte ROAD Summary Data Sheets im PDF-Format heruntergeladen werden.
ROAD basiert aktuell auf der Durchsicht von über 3.400 Artikeln, Büchern, Dissertationen und Berichten in acht Sprachen. Derzeit, im Juni 2021, enthält sie Informationen über mehr als 2.000 Fundstellen und 12.000 Inventare (also Fundkomplexe in einer Schicht). „ROAD ist ein potentes Informationswerkzeug, mit dem wir auch Big-Data-Anwendungen versuchen. Aber trotz aller Technologie braucht es die Forschenden, um die Ergebnisse zu interpretieren“, hebt Haidle hervor. „Mit ROAD archivieren und bewahren wir die tiefe Vergangenheit der Menschheit und erschließen sie für weitere Forschungen“.
Ziel: Neue Erkenntnisse zur tiefen Geschichte der Menschheit
„Wir nutzen unsere Datenbank, um mehr und mehr Verknüpfungen herzustellen. Schließlich geht es darum, ein systemisches Verständnis vom Menschen als biokulturelles Wesen in Wechselwirkung mit ihrer Umwelt zu entwickeln“, so Haidle. Die frühen Menschen – mit ihrer tiefen Geschichte von über 3,3 Millionen Jahren – haben nichts mit dem weit verbreiteten Bild von tumben Vorfahren zu tun. „Wir wollen zeigen, wie vielfältig ihre Entwicklung war, wie unterschiedlich sich die Auseinandersetzungen mit der Umwelt und im Miteinander ausgewirkt haben. Diese Erkenntnisse sind nicht nur schön für die Urgeschichte, sondern relevant für viele andere Wissenschaften und unser Bild von uns selbst“.
Das Akademieprojekt "The Role of Culture in Early Expansions of Humans"
Seit 2008 ist das Akademieprojekt "The Role of Culture in Early Expansions of Humans" Teil des Akademienprogramms der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften. Das Projekt, das noch bis 2027 läuft, wird von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften betreut und ist an zwei Arbeitsstellen am Senckenberg Forschungsinstitut Frankfurt a.M. und der Eberhard Karls Universität Tübingen angesiedelt. Es steht unter der Leitung von Prof. Nicholas J. Conard, PhD, Prof. Dr. Volker Hochschild, Prof. Dr. Dr. h.c. Volker Mosbrugger und Prof. Dr. Friedemann Schrenk.
Wissenschaftliche Projektkoordinatorin: PD Dr. Miriam N. Haidle.
Laufzeit: 2008 bis 2027.
Die Heidelberger Akademie der Wissenschaften
Die 1909 gegründete Heidelberger Akademie der Wissenschaften ist Landesakademie von Baden-Württemberg. Sie ist zugleich außeruniversitäre Forschungseinrichtung und Gelehrtengesellschaft. Sie fördert den fächerübergreifenden Austausch u.a. durch Vorträge, Veranstaltungen oder interdisziplinäre Forschungsprojekte von etablierten sowie jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.
Ausstellung „Menschsein – Die Anfänge unserer Kultur“
Die Ausstellung am Archäologischen Museum in Frankfurt a. M. läuft noch bis 30. Januar 2022. Sie entstand in Kooperation mit der Forschungsstelle “The Role of Culture in Early Expansions of Humans” der Heidelberger Akademie der sowie mit Studierenden der Goethe-Universität Frankfurt. Sie wird vom Kulturfonds Frankfurt RheinMain, der Stiftung Polytechnische Gesellschaft Frankfurt am Main und der Historisch-Archäologischen Gesellschaft Frankfurt gefördert.
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