Erinnerung lebendig halten: Online-Handbuch zu den Todesopfern des Eisernen Vorhangs

Zum 30. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung hat der Forschungsverbund „Eiserner Vorhang“ ein digitales Handbuch mit Biografien von Menschen, die den gefährlichen Weg aus der SED-Diktatur in die Freiheit wagten und dafür ihr Leben oder langjährige Haftstrafen riskierten, online zugänglich gemacht. Wie es dazu kam und was darauf folgt, erfahren Sie hier.

Auto an einem Strand

Osteeflucht, MfS-Foto

BStU

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Grenzübergang

Am 21. April 1989 wollte Ralph-Peter Saurien über die ČSSR-Grenze nach Österreich flüchten. Beim Versuch, die Grenzanlagen zu durchbrechen, kam er ums Leben.

Archiv Ústava pamäti národa; f. KS SNB StB Bratislava; Ba-V; a.č. 20524

Mehr als vier Millionen Menschen verließen zwischen 1949 und 1989 die DDR. Sie wollten oder mussten vor den politischen Verhältnissen und den Lebensbedingungen im SED-Staat fliehen. „Die SED als herrschende Partei versuchte alles für sie Machbare, um die Fluchtbewegung zu stoppen. Und sie nahm dabei den Tod von Männern, Frauen und Kindern bewusst in Kauf“, erläutert Dr. Jochen Staadt, Projektleiter im Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin. „Auch Menschen, die ohne Fluchtabsicht im Grenzgebiet unterwegs waren, und dort eingesetzte Grenzsoldaten verloren an der innerdeutschen Grenze ihr Leben“.

„Die Forschungen zur Flucht aus der DDR setzte schon kurz nach der Wiedervereinigung ein. Bis heute gibt es große Wissenslücken, die wir im Verbund schließen möchten“, so Staadt. Seit November 2019 untersucht der Forschungsverbund SED-Staat mit den Universitäten Greifswald und Potsdam Todesfälle von DDR-Bürgern bei Fluchtversuchen über Ostblockstaaten und über die Ostsee sowie die Rechtsbeugung des DDR-Justizministeriums gegen Ausreisewillige. Die Verbundforschung wird vom BMBF mit rund drei Millionen Euro gefördert.

Lebenswege und Schicksale online zugänglich

Die Forschungsteams wenden sich den Schicksalen von Menschen zu, die den gefährlichen Weg aus der SED-Diktatur in die Freiheit wagten und dafür ihr Leben oder langjährige Haftstrafen riskierten. Seit Oktober 2020 können Forschungsergebnisse auf der Plattform „Biografische Online-Handbuch“ abgerufen werden.

Derzeit sind dort 337 (Stand 20. Juli 2021) Biografien jener Menschen zu finden, die an der innerdeutschen Grenze ums Leben kamen sowie etliche Biografien von DDR-Flüchtlingen, deren Fluchten an den Grenzen anderer Ostblockstaaten oder in der Ostsee tragisch gescheitert sind. „Mit dem digitalen Handbuch erinnern wir an die Todesopfer an der innerdeutschen Grenze sowie an die tödlich gescheiterten Fluchten von DDR-Bürgern über die Ostsee und die Ostblockstaaten“, betont Staadt. Neue Biografien werden nach und nach hinzugefügt, wenn durch Archivalien und Zeitzeugenbefragungen das damalige Geschehen nachvollziehbar belegt ist. Das Forschungsteam der Freien Universität Berlin kooperiert mit Historikerinnen und Historikern in allen Anrainerstaaten entlang des früheren Eisernen Vorhangs, die im dortiges Archivgut die Unterlagen zu Todesfällen im damaligen Grenzgebiet auswerten. Auch das Team der Universität Greifswald arbeitet im Rahmen seiner Untersuchung mit internationalen Projektpartnern im Ostseeraum zusammen.

Die auf der technischen Grundlage des Open Encyclopedia System (OES) entwickelte Datenbank (siehe Kasten) ermöglicht sowohl die Recherche mit einer Volltextsuche als auch das Filtern der Biografien nach verschiedenen Kriterien. So lässt sich über eine Karte der Geburts- und die letzten Wohnorte der Betroffenen finden, über Vorfalls- und ggf. Leichenfundort der Fluchtweg nachvollziehen. Nach und nach werden die Lebensgeschichten im Online-Handbuch mit Ausschnitten aus Video-Interviews ergänzt, die mit Angehörigen der Todesopfer oder deren Freunde geführt wurden.

Politische Bildung fördern

kaputtes Auto am Strassenrand

Grenzdurchbruch 1989 an der CSSR-Grenze mit Todesfolge für einen 8-jährigen Jungen aus Berlin

BStU

Das Online-Handbuch richtet sich insbesondere an schulische Einrichtungen und regionale Institutionen der politischen Bildung. Die Forschungsteams möchten mit dem „Biografischen Online-Handbuch“ zudem Verwandte, Freunde und weitere Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erreichen, die die rekonstruierten Biografien ergänzen und wo nötig die Angaben aus den Überlieferungen der Sicherheitsorgane berichtigen können. Das Center für Digitale Systeme der Freien Universität Berlin transkribiert die Zeitzeugeninterviews in voller Länge und macht sie in einem digitalen Interview-Archiv für wissenschaftliche und pädagogische Zwecke zugänglich. Mit mehreren Grenzlandmuseen und Erinnerungsstätten ist dazu eine Zusammenarbeit vereinbart. Damit schließen sich die Wissenslücken über Todesfälle von DDR-Bürgern bei Fluchtversuchen über Ostblockstaaten und über die Ostsee sowie die Rechtsbeugung des DDR-Justizministeriums gegen Ausreisewillige.

DDR -Forschung

Mit der Richtlinie zur Förderung von Forschungsvorhaben auf dem Gebiet der DDR-Forschung (Bundesanzeiger vom 31.05.2017) stärkt das BMBF die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der DDR und dem SED-Unrecht. Von über 100 Bewerbungen wurden 14 Forschungskonsortien ausgewählt, die das BMBF ab Herbst 2018 für vier Jahre mit einer Fördersumme von 40 Millionen Euro unterstützt. Ziel ist, Wissenslücken zu schließen und die DDR-Forschung in der deutschen Hochschul- und Forschungslandschaft stärker zu verankern. Mehr dazu siehe BMBF Pressemitteilung 048/2018.

Wer wo woran forscht, erfahren Sie hier.

Was ist eine Open-Encyclopedia-System-Anwendung (OES)?

Das Biografische Handbuch ist eine sogenannte Open-Encyclopedia-System-Anwendung (OES), die vom Center für Digitale Systeme der Universitätsbibliothek an der Freien Universität Berlin entwickelt wurde. Das OES ist eine standardisierte Open-Source-Plattform, mit der Online-Enzyklopädien frei zugänglich (Open Access) im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften erstellt und veröffentlicht werden können.

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