Wie hat sich die jüdische Trauerkultur im Schatten der Shoah verändert? Wie haben Überlebende die Trauer um ihre verstorbenen Angehörigen zum Ausdruck gebracht? Diesen bis dato unterbelichteten Forschungsfragen geht Dr. Stefanie Fischer auf den Grund. Sie ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Martin-Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Im Rahmen des BMBF-Projektes „Die Toten unter den Lebenden. Jüdische Trauerpraktiken nach der Shoah“ analysiert die Historikerin die eng zusammenhängenden, aber selten zusammen gedachten Themenfelder Tod, Trauer und Weiterleben nach der Shoah. „Jüdische Friedhöfe und Grabinschriften sind sehr gut erforscht – nicht aber, wie sich die Beziehungen der Lebenden zu den Toten, deren sterbliche Überreste in der ‚blutgetränkten Erde‘ Europas verblieben waren, verändert haben. Und das ist genau mein Thema“, erklärt Fischer.
In ihrem Forschungsprojekt untersucht Fischer die Trauerpraktiken der aus Deutschland geflohenen Jüdinnen und Juden bzw. der Shoah-Überlebenden. Es geht um die Frage, wie sie mit jenen verstorbenen Angehörigen in Beziehung traten, die in einer Zeit des Massenmords in Einzelgräbern nach jüdischer Tradition an ihren letzten Wohnorten zur Ruhe gelegt wurden. Dieser innovative Zugang über die Trauerpraktiken erlaubt neue Einblicke in die Wirkung der Shoah bis tief in die Alltagskultur des modernen Judentums und ihrer transnationalen Konstellationen.
Interaktion zwischen den Lebenden und den Toten
Fischer analysiert Briefe von Shoah-Überlebenden, die in den Jahren unmittelbar nach dem Krieg – zwischen 1945 und 1949 – geschrieben wurden. Viele deutsche Exiljuden wandten sich dieser Zeit an die Rabbiner ihrer ehemaligen Gemeinden, sie versuchten, Anschluss zu finden und erkundigten sich nach den Gräbern ihrer Verwandten. „Durch die Analyse dieser Briefe erfahren wir, wie deutsche Juden ihre Trauer um Angehörige, die auf den jüdischen Friedhöfen Deutschlands begraben lagen, zum Ausdruck brachten. Diese Forschung bringt zudem den Status der Toten unter den deutsch-jüdischen Familien im Ausland ans Licht, sowohl in emotionaler als auch in physischer Hinsicht“.
„Die Briefe deutsch-jüdischer Flüchtlinge an die Rabbiner ihrer ehemaligen Heimat zeigen bisher vor allem eines: Für diejenigen, die dem Völkermord entkommen waren, war es von großer Bedeutung, dass die Grabstätten erhalten bleiben und nach jüdischem Ritus gepflegt werden“, betont Fischer und ergänzt: „Sie waren die Orte, an denen die Gebeine ihrer Angehörigen ruhten, und die emotionale Verbindung war wichtig. Diese Haltung steht im Widerspruch zur orthodoxen jüdischen Trauerpraxis, die davon ausgeht, dass der Friedhof ein Ort für die Toten ist, während der Platz des Trauernden im Haus oder in der Synagoge sein sollte, wo das Kaddisch rezitiert wird“.
In den nächsten Jahren erforscht Fischer an der Goethe-Universität die Trauerpraktiken deutscher Juden nach der Shoah in vier Gemeinden: in zwei großstädtischen (Berlin und Frankfurt am Main) und zwei ländlichen Gemeinden (aus Baden und Bayern). Damit legt sie den Fokus auf individuelle, private Praktiken des Totengedenkens. Und diese unterscheiden sich gänzlich von öffentlichen Gedenkritualen, wie zum Beispiel Gedenkmärschen oder Yizkor-Büchern, die bis dato ein zentraler Gegenstand des Fachs Judaistik sind. „Jüdische Friedhöfe sind weit mehr als letzte steinerne Zeugen jüdischen Lebens“, erklärt Fischer, „sie sind kulturelle Trauerorte, an denen die Präsenz von Juden im Nachkriegseuropa aufgezeigt werden kann“.
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