Wie kam es dazu, dass das kulturelle Erbe der uigurischen Hochkulturen ausgerechnet in Deutschland erforscht wird?
Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts zog es preußische Wissenschaftler nach Turfan, in die heutige Autonome Region Xinjiang in der Volksrepublik China. Bei vier Turfan-Expeditionen entdeckten sie u.a. kulturelle Schätze der Uiguren, darunter mehr als 40.000 Textfragmente in verschiedenen Sprachen und Schriften. Sie stammen aus der Zeit der uigurischen Königreiche in Zentralasien (8.-13. Jh.). Diese Texte sind in sprach- und religionswissenschaftlicher Hinsicht von weitreichender Bedeutung: Sie zeigen, dass sich Uiguren zum Buddhismus, Manichäismus und zum Christentum bekannten. Die traditionsreiche Göttinger Turkologie hat sich seit vielen Jahrzehnten der Aufgabe verschrieben, die schriftlichen Zeugnisse der Hochkulturen der Uiguren wissenschaftlich zu erschließen und als Weltkulturerbe zu erhalten. Ein umfassendes altuigurisches Wörterbuch, das vom Göttinger Turkologen Klaus Röhrborn in den 1970er Jahren begonnen wurde und für weitere Forschungen in Teilen bereits jetzt online verfügbar ist, legt – unter dem Titel „Uigurisches Wörterbuch“ – die Basis dafür (Details s. Kasten).
Das „Uigurische Wörterbuch“ soll eine umfassende Bestandsaufnahme des in den Texten bewahrten Erbes der bedeutenden Kulturnation der Uiguren sein. Das ost-uigurische Königreich, der einzige Staat der Weltgeschichte mit manichäischer Staatsreligion, bestand von 744 bis 840, das sich zeitlich anschließende west-uigurische Königreich an der Seidenstraße war vor allem vom Maitreya-Buddhismus geprägt und hatte eine große Ausstrahlung auf die tangutische und mongolische Kultur, bis sich das östliche Zentralasien nach dem Fall der Mongolen-Herrschaft in China (1368) für den Islam öffnete. Das Wortmaterial der uigurischen Texte soll durch ein Belegwörterbuch erschlossen werden, das durch die Präsentation im Internet für verschiedene Recherchen auf dem Gebiet der Sprach- und Religionswissenschaft, aber auch für alle an der „Seidenstraße“ interessierten Disziplinen, wie Kulturanthropologie, Rechts- und Wirtschaftsgeschichte zur Verfügung stehen soll. Besonders wichtige Teile des Wörterbuchs, insbesondere die Bedeutungs-Angaben, wurden in das Türkische übersetzt, um den Benutzern in der türkisch-sprachigen Welt den Zugang zu erleichtern.
Quelle: Über das digitale „Uigurische Wörterbuch“
Online-Zugriff auf das „Uigurische Wörterbuch“
Unter Ihrer Leitung untersuchen Forscher den uigurischen Wortschatz und übersetzen ihn ins Deutsche sowie ins Türkeitürkische. Welche Bedeutung hat das Projekt „Wörterbuch des Altuigurischen“?
Die Turkologie ist untrennbar mit der Kenntnis der verschiedenen Sprachen und Kulturen verbunden, die das Türkentum im Laufe der Geschichte beeinflusst haben. Vom 8. bis ins 13. Jahrhundert begründeten die Uiguren in der Mongolei und entlang der Seidenstraße als erstes Turkvolk eine Hochkultur. Deren Texte sind die ältesten überlieferten türkischen handschriftlichen Texte und damit grundlegend für die Erforschung aller türkischen Sprachen. Von seiner Bedeutung her ist das Altuigurische daher vergleichbar mit dem Lateinischen bei den romanischen Sprachen.
Die Erforschung der vorislamischen türkischen Sprache und Kultur hat auch in der Türkei eine längere Tradition, sie ist insbesondere zu Lebzeiten Atatürks (†1938) gefördert worden. Gerade in der jüngsten Zeit jedoch ist diese Tradition – durch eine schleichende Re-Islamisierung auch des Wissenschaftsbetriebs – gefährdet. Das „Wörterbuch des Altuigurischen“ bietet einen Zugang zur alttürkischen Kultur außerhalb dieser religiös gebundenen Betrachtungsweise und ist für die türkische Wissenschaft eine große Chance, an der aktuellen Forschung zur vorislamisch-türkischen Sprache und Kultur Zentralasiens teilzunehmen.
Und was bedeutet der Zugang zur altuigurischen Sprache und Kultur für die Uiguren?
Die Uiguren stehen vor dem Schicksal einer Sinisierung, verbunden mit einer Auslöschung ihrer jetzigen islamischen Kultur und dem Verlust des kulturellen Gedächtnisses für die Hochkulturen der vorislamischen Zeit der Alten Uiguren. Die Wahrung ihrer Identität ist ihnen sehr wichtig, und schon von daher erfüllen die wissenschaftlichen Arbeiten zur uigurischen Kultur, und gerade auch unser Wörterbuch, eine eminent politische Aufgabe, die ursprünglich gar nicht intendiert war.
Die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen wurde 1751 gegründet und ist die älteste durchgehend bestehende Einrichtung ihrer Art in Deutschland. Sie vereint 400 herausragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über Fach- und Ländergrenzen hinweg. Als Forschungseinrichtung betreut sie rund 30 Langzeitprojekte von internationaler Bedeutung und ist damit auf dem Gebiet der geisteswissenschaftlichen Grundlagenforschung die größte außeruniversitäre Einrichtung Niedersachsens. Zu ihrem modernen Verständnis von Forschung gehört die freie Zugänglichkeit wissenschaftlicher Ergebnisse im Internet. In regionalen wie überregionalen Veranstaltungen sucht sie den Dialog mit der Öffentlichkeit in gesellschaftsrelevanten Fragen oder bietet vertiefende Einblicke in spezielle Wissensgebiete.
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