Niklas Luhmann Online: die Erschließung seines Nachlasses
Er gibt der Welt noch immer viel zu denken: der Bielefelder Soziologe Niklas Luhmann (1927-1998), einer der bedeutendsten Gesellschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts. Sein wissenschaftlicher Nachlass, den die Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste seit 2015 im Rahmen des Akademienprogramms erschließt, lädt zu weitreichenden Forschungen ein.
Niklas Luhmann, der von 1968 bis 1993 an der Universität Bielefeld forschte und lehrte, war einer der bedeutendsten Soziologen des 20. Jahrhunderts. Entsprechend umfangreich ist sein wissenschaftlicher Nachlass, den die Universität Bielefeld im Jahr 2010 erwarb. Dieser umfasst nicht nur den „Luhmannschen Zettelkasten“ mit mehr als 90.000 handschriftlichen Notizen, sondern auch rund 4.000 unerschlossene Manuskriptbestandteile sowie Audio- und Videoaufnahmen.
Mit dem Akademieprojekt „Niklas Luhmann – Theorie als Passion. Wissenschaftliche Erschließung und Edition des Nachlasses“ erweckt die Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaft und der Künste den Nachlass Luhmanns – und damit vier Jahrzehnte internationale soziologische Forschung – zu neuem Leben.
Blick auf sämtliche Bereiche der Gesellschaft
„Luhmann war einer der produktivsten Soziologen, den es jemals gegeben hat“, betont Prof. André Kieserling, Leiter des Akademieprojektes und Soziologie-Professor an der Universität Bielefeld: „Luhmann hatte kein geringeres Ziel, als sämtliche Bereiche der modernen Gesellschaft zu beschreiben und in ihrer Struktur zu verstehen. Er ging davon aus, dass jedem gesellschaftlichen System eine Struktur zugrunde liegt, die sich auch in allen anderen Systemen oder Lebensbereichen wiederfinden lässt, seien es Wirtschaft, Bildung, Familie, Religion, Liebe, Recht, Politik oder Massenmedien“.
Aufbau des Niklas Luhmann-Archivs
Zettel für Zettel, Seite für Seite werden seither die bewahrenswerten Teile des Nachlasses – darunter allein vier verschiedene Versionen einer Gesellschaftstheorie aus den 1960er bis 1990er Jahren – an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld digitalisiert und ediert.
In Zusammenarbeit mit dem Cologne Center for eHumanities (CCeH) haben die Forschenden das digitale „Niklas Luhmann-Archiv“ aufgebaut, seit 2019 ist es online. Dort werden sukzessive eine Vielzahl von Informationen zu Luhmann und seinem Werk bereitgestellt, also zur Person und Theorie Luhmanns, zum Nachlass und den Onlinebeständen sowie zum Akademieprojekt selbst. Seit 2020 kooperieren die Luhmann-Forschenden mit den Digital Humanities an der Bergischen Universität Wuppertal (siehe https://niklas-luhmann-archiv.de/aktuelles).
Zettelkasten als Einfallsgenerator
Im Zentrum des Akademieprojektes und des Online-Bestandes steht der Luhmannsche Zettelkasten. In diesem Kasten hat der Bielefelder Soziologe mehr als 40 Jahre lang seine Gedanken und Überlegungen notiert, auf mehr als 90.000 Zetteln, jeder mit einem individuellen Code aus Zahlen und Buchstaben versehen sowie mit Verweisen auf andere Zettel.
„Diese Aufzeichnungen, die zwischen 1952 und 1997 entstanden sind, dokumentieren die Theorieentwicklung Luhmanns auf eine einzigartige Weise: Die Sammlung lässt sich als Luhmanns intellektuelle Autobiografie verstehen, zugleich dokumentiert sie die Geschichte des wissenschaftlichen Reflektierens über die Gesellschaft“, stellt der Projektleiter fest.
Und nicht nur das: „Die Sammlung war für Luhmann ein Denkwerkzeug und Einfallsgenerator zugleich“, hebt Kieserling hervor und erläutert: „Der Kasten mit seinen zigtausend Hinweisen und Verweisen ermöglichte Zufallsfunde: Er diente Luhmann als Instrument zu Herstellung unvorhergesehener Verbindungen – ganz im Sinne der Wissenschaftstheorie, nach der alles Wesentliche nicht gesucht, sondern gefunden wird“. Und das geht heute viel leichter, online auf dem Forschungsportal (siehe das Tutorial zur Nutzung des digitalen Zettelkastens).
Wissen nutzbar machen
Lange vor dem digitalen Zeitalter hat Luhmann also mit seinem Zettelkasten ein dem WorldWideWeb ähnliches Instrument erschaffen, um Ideen zu sammeln, zu verknüpfen und zu generieren – und hat damit mehr als 600 Veröffentlichungen hervorgebracht. Und genau dieses Wissen können dank des Akademieprojektes zukünftig auch andere Forschende nutzen. Etwa all jene, die sich in überdurchschnittlicher Weise für Luhmann oder für die Funktionsweise des Kastens interessieren. Und nicht zuletzt all jene Luhmann-Expertinnen und Experten, die den Kasten wie der Meister selbst als Einfallsgenerator nutzen möchten. „Ich habe den Kasten noch nicht als Publikationsgenerator ausprobiert. Dafür müssten wir weiter sein. Aber wenn noch mehr Zettel online nutzbar sind, ist die Zeit reif“, sagt Luhmann-Schüler Kieserling. Drei von insgesamt 27 Auszügen des Kastens mit jeweils 3.000 bis 3.500 Zetteln sowie einige Registerabteilungen sind bereits verfügbar, zukünftig wächst der digitale Bestand um zwei Auszüge pro Jahr.
In aller Kürze: Das Luhmann-Projekt
Seit 2015 ist das Akademieprojekt „Niklas Luhmann – Theorie als Passion. Wissenschaftliche Erschließung und Edition des Nachlasses“ Teil des Akademienprogramms der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften.
Das Luhmann-Projekt wird von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste betreut und ist an der Fakultät für Soziologie Universität Bielefeld angesiedelt.
Ziel ist die wissenschaftliche Erschließung und Edition des Nachlasses Niklas Luhmanns. Die digitale Bereitstellung des Nachlasses erfolgt im „Niklas Luhmann-Archiv“, das als zentrale Anlaufstelle für die Luhmann-Forschung dient. Die Schriften aus dem Nachlass werden zudem in einer Printedition veröffentlicht.
Leitung: Professor Dr. André Kieserling, seit 2006 Professor für Allgemeine Soziologie / Soziologische Theorie an der Universität Bielefeld
Kooperationspartner: 2015-2019: Cologne Center for eHumanities, Universität zu Köln, seit 2020 Digital Humanities, Bergische Universität Wuppertal
Laufzeit: 2015 bis 2030
Wir bitten um Ihre Mithilfe!
Um diese Website bestmöglich an Ihrem Bedarf auszurichten, nutzen wir Cookies und den Webanalysedienst Matomo, der uns zeigt, welche Seiten besonders oft besucht werden. Ihr Besuch wird von der Webanalyse derzeit nicht erfasst. Sie können uns aber helfen, indem Sie hier entscheiden, dass Ihr Besuch auf unseren Seiten anonymisiert mitgezählt werden darf. Die Webanalyse verbessert unsere Möglichkeiten, unseren Internetauftritt im Sinne unserer Nutzerinnen und Nutzer weiter zu optimieren. Es werden keine Daten an Dritte weitergegeben. Weitere Informationen hierzu finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.