Im Hier und Jetzt: Prof. Dr. Dörte Schmidt im Interview zur „Bernd Alois Zimmermann-Gesamtausgabe“

Seine Kompositionen fangen die Zeit ein, spielen mit Genres, verbinden verschiedenste Medien – Bernd Alois Zimmermann (1918–1970) ist einer der einflussreichsten deutschen Komponisten des 20. Jh.. Mit der „Bernd Alois Zimmermann-Gesamtausgabe“ wird sein Œuvre erschlossen und der Musikwelt zugänglich gemacht. Einblicke in diese spannende Editionsarbeit gibt Projektleiterin Prof. Dr. Dörte Schmidt.

Abstrakte Kuh aus Puppenthater

Nachbau von Fred Schneckenburgers „Die Kuh“ aus dem abstrakten Puppentheater „Das Grün und das Gelb“ für die Rekonstruktion der Uraufführungsfassung durch die Marionettenoper im Säulensaal der Universität Heidelberg unter der Leitung von Dr. Joachim Steinheuer

Adrian Kuhl

Gleich zwei Akademien arbeiten seit 2016 an der Gesamtausgabe: die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften und die Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz. Das gemeinsam getragene Projekt legt sämtliche Werke, Schriften und eine Auswahl der Korrespondenz des Komponisten in historisch-kritischen Hybrid-Editionen vor.

Die „Bernd Alois Zimmermann-Gesamtausgabe“ ist die erste Gesamtausgabe für Musik nach 1945 im Akademienprogramm. Welche Bedeutung hat Zimmermann für die Musikgeschichte, Frau Professorin Schmidt?

Prof. Dr. Dörte Schmidt

Projektleiterin Prof. Dr. Dörte Schmidt

Vincent Leifer

Zimmermann nimmt eine Schlüsselposition in der Geschichte der deutschen Nachkriegs-Musik ein: Er ist einer – wenn nicht der Komponist –, der ab den 1950er Jahren wirklich versucht hat, eine Bestandsaufnahme zu machen. Anders als diejenigen, die sich der Hoffnung auf eine „Stunde Null“ verschrieben hatten und nach dem Krieg alles neu aufbauen wollten, übernahm Zimmermann als Komponist aktiv die Verantwortung, die sich für ihn aus der historischen Situation ergab. Und dieser Verantwortung suchte er gerecht zu werden durch eine umfassende Diagnose seiner Zeit. Diese Zeitdiagnostik ist einer der Motoren seiner Arbeit. Und das Interessante daran ist, dass er mit seinen Kompositionen nicht nur den Moment einfängt, sondern eine ästhetische Erfahrung ermöglicht, die tatsächlich, wie man das ja von Kunst will, über die eigene Zeit hinausreicht. Das zeigen nicht nur die Aufführungszahlen seiner Werke, man kann es auch daran erkennen, wie bemerkenswert viele Komponistinnen und Komponisten sich nach Zimmermanns Tod weiter auf ihn beziehen. Zimmermann war unglaublich wirksam mit dieser Haltung.

Zimmermann versteht also Kunst als Wahrnehmungsvorgang bei der Gestaltung der Welt. Könnten Sie das bitte an einem Beispiel erklären?

„Requiem für einen jungen Dichter“, Realisationspartitur für einen Teil des Zuspieltonbands

„Requiem für einen jungen Dichter“, Realisationspartitur für einen Teil des Zuspieltonbands

Reproduktion mit freundlicher Genehmigung von Bettina Zimmermann und der Akademie der Künste Berlin, Bernd-Alois-Zimmermann-Archiv

Ein gutes Beispiel ist das Requiem für einen jungen Dichter, Zimmermanns zweites großes Hauptwerk neben der Oper Die Soldaten. Hier ist er wirklich ins Extrem gegangen. Das Werk vereint Solisten, Sprecher, drei Chöre, Orchester, eine Jazz-Combo und Zuspielbänder. Er hat versucht, all das, was er als akustische Umwelt wahrnahm, in sein Kunstwerk aufzunehmen. Als Hörerin oder Hörer sitzt man sozusagen in der Mitte des Panakustikums, das Tonbandaufnahmen von politischen Ansprachen, philosophischen und literarischen Texten mit live musizierten Anteilen kombiniert. Eine ganze Zeit lang steht in diesem Stück außer den Tonbändern alles still: Auch Dirigentin oder Dirigent, Solistinnen und Solisten, Chor und Orchester werden zu Zuhörenden. In dieser Situation fragt Zimmermann: Wie finden wir einen Weg, hinter dieser Vielfalt doch eine Ordnung vermuten zu können? Alles wird zusammengehalten durch eine klare Zeitorganisation, man weiß, wann es anfängt, wann es endet, es hat jemand gestaltet, und doch ist es eine Herausforderung.


Und diese Herausforderung ist gewollt?

Bernd Alois Zimmermann (l.) mit dem ecuadorianischen Komponisten Mesias Maiguashca, WDR Köln, 1969

Bernd Alois Zimmermann (l.) mit dem ecuadorianischen Komponisten Mesias Maiguashca, WDR Köln, 1969

Werner Scholz

Genau, bei Kunst geht es ja nicht darum, einfach zu sein. Zimmermann wirft die Frage auf, wie ästhetische Wahrnehmung funktioniert unter den Bedingungen, in denen wir in der Welt sind. Deshalb kann man Zimmermann auch in der Regel nicht nebenbei hören. Das Requiem ist wirklich ein Stück, das man live erleben muss. Nur dann erkennt man, was sich wo im Raum abspielt und kann die Aufführenden von den (aus allen Richtungen kommenden) Tonbandeinsspielungen unterscheiden. Auch in der Oper Die Soldaten findet vieles parallel statt, nicht nur auf der Bühne, sondern auch mit Einspielungen und Projektionen, wohin sich ab einem bestimmten Punkt der Fortgang der Handlung verlagert. Das ist, wie Zimmermanns Komponieren überhaupt, alles andere als statisch und so bewegte sich der Komponist auch durch sein Schaffen. Immer wieder griff er bereits Vorhandenes in neuem Kontext auf und erprobte es unter neuen Bedingungen, also „work in progress“.

Verschiedene Versionen, Medienvielfalt – wie lässt sich das edieren?

Das ist eine sehr spannende Herausforderung. Denn Zimmermanns Werke sind nicht nur vielschichtig und untereinander verflochten, sondern er nutzte eben auch vielfältige Medien, angefangen von traditionellen Notationen und graphischen Darstellungen, über die erwähnten Zuspielbänder bis hin zu einer rein elektronischen Komposition, zu der es gar keine Partitur mehr gibt. Das heißt auch, wir haben es bei der Edition mit Quellen zu tun, die nicht mehr nur auf Papier überliefert sind, sondern auch auf Tonbändern. Bisher gibt es noch wenig Erfahrung mit dem editorischen Umgang mit solchen Lagen. Wir betreten also editorisches Neuland und nutzen und entwickeln dafür die Werkzeuge der digitalen Edition. In der hybriden Gesamtausgabe, die wir gemeinsam mit dem Verlag Schott Music vorlegen, fließt alles zusammen. In einer digitalen, internetbasierten Version legen wir den Fokus auf die Vernetzung des Œuvres und können u. a. auch Audioquellen einbinden. Sie ist vorwiegend auf die Ansprüche eines vertieften, quellenorientierten Forschungsinteresses ausgerichtet. In der Druckausgabe mit Kritischem Bericht stellen wir sämtliche Informationen für die musikalische Praxis bereit. Dabei versuchen wir, aufführbare Partituren bereitzustellen.

Spannend wird dies allerdings bei den in einigen Werken vorhandenen, unauflösbaren Textproblemen, sogenannten Kruxen. Das sind z. B. Stellen, die rhythmisch nicht ganz aufgehen, für die man aber keine klare, aus der Komposition heraus argumentierte Lösung finden kann. Diese bleiben der Edition erhalten und werden im Kritischen Bericht eingehend diskutiert. Wir erarbeiten hierzu Lösungsvorschläge, erproben sie in der Praxis, stellen sie vor – die Antwort überlassen wir den Künstlerinnen und Künstlern; solche Stellen erfordern, so unsere Auffassung, künstlerische Entscheidungen und keine editorischen.

Wie gelingt es, all das in die Notenbände zu integrieren?

„Das Grün und das Gelb“, Rekonstruktion der Uraufführungsfassung von 1952 beim Salon Sophie Charlotte der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2019

„Das Grün und das Gelb“, Rekonstruktion der Uraufführungsfassung von 1952 beim Salon Sophie Charlotte der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2019

Judith Affolter

Das ist schon sehr aufwendig. Und wir erleben immer wieder, wie eng unsere editorische Arbeit über die wichtige Unterstützung des Verlages hinaus (der ja z. B. auch für die Aufführungsmaterialen für jedes einzelne Instrument im Orchester sorgt) mit ganz pragmatischen Bedingungen der Herstellung von Notendrucken verbunden ist. Der Druck wie die buchbinderische Herstellung solcher Notenbände ist wirklich eine Arbeit für Spezialisten, und es ist viel zu wenig bekannt, wie wenige Menschen das überhaupt heutzutage noch können. Anders als bei Büchern, wo einmal ein Format erstellt wird und gedruckt wird, muss etwa bei Notenbänden mit großen Besetzungen jede einzelne Seite für sich skaliert werden und die gesamte Partitur muss in sehr hoher Auflösung gedruckt werden, damit alles lesbar ist. Das können nur noch wenige Druckereien. Zimmermanns Werke sprengen überdies die üblichen Formate, fordern Übergrößen oder Querformate. Auch das ist aufwendig und teuer, stellt es doch besondere Anforderungen an die Herstellung. Oft aber bleibt keine andere Wahl. Die Partitur des Requiem für einen jungen Dichter zum Beispiel reicht vom Boden bis an meine Hüfte. Und es wird wohl noch dauern, bis solche Partituren in Aufführungen digital genutzt werden können.

Ihre Arbeit reicht also weit über das Theoretische hinaus …

Richtig, für uns ist die Beziehung zur Praxis enorm wichtig, sei es bei der Herstellung der Notenbände oder bei der Zusammenarbeit mit Musikschaffenden. Wir sind ganz glücklich, mit ihnen zusammen Partituren auszuprobieren. Zu Zimmermanns 100. Geburtstag haben wir beispielsweise mit dem Pianisten und Komponisten Steffen Schleiermacher den von Zimmermann selbst erstellten Klavierauszug des Balletts Kontraste im Konzert erprobt und in den Zusammenhang der mit diesem Stück verbundenen Klavierwerke gestellt. Genauso interessant ist es, die Editionsarbeit mit der Lehre zu verbinden. Wir unterrichten aus der Gesamtausgabe heraus, und zwar an einer Kunsthochschule. So kommen wir mit sehr unterschiedlichen Studierenden in Kontakt, die Wissenschaftlerin bzw. Wissenschaftler, Musikerin bzw. Musiker oder Lehrerin bzw. Lehrer werden wollen. Auch die Zusammenarbeit mit Schülerinnen und Schülern ist für uns spannend, wir bekommen interessante Rückmeldungen, das haben wir bei der Veranstaltungsreihe „Zurückgespult – Elektronische Musik von Bernd Alois Zimmermann zwischen Remix und Edition“ erlebt. Es ist immer aufs Neue anregend, Zimmermann im Hier und Jetzt zu erproben – das hätte auch ihm gefallen!
Herzlichen Dank für das schöne Interview, Frau Professorin Schmidt!

(Das Interview führte Katrin Schlotter im Juni 2023.)

Bernd Alois Zimmermann und Sohn Gereon in der Villa Massimo, 1963/64

Bernd Alois Zimmermann und Sohn Gereon in der Villa Massimo, 1963/64

Sabine Zimmermann/Bettina Zimmermann

Sabine Zimmermann und Bernd Alois Zimmermann

Im Frühsommer 1957 erhielt Zimmermann als erster Komponist ein Stipendium der Villa Massimo in Rom, wo die Arbeit an der Oper Die Soldaten begann. Hier mit seiner Ehefrau Sabine Zimmermann (geb. von Schablowsky).

Georg Michalke

Bernd Alois Zimmermann: Photoptosis, autographe Partitur

Bernd Alois Zimmermann: Photoptosis, autographe Partitur

Kulturgutscanner, mit freundlicher Genehmigung Akademie der Künste Berlin, Bernd-Alois-Zimmermann-Archiv und Bettina Zimmermann

Kontraste, Musik zu einem imaginären Ballett nach einer Idee von Fred Schneckenburger, Partiturautograph (Ausschnitt)

Kontraste, Musik zu einem imaginären Ballett nach einer Idee von Fred Schneckenburger, Partiturautograph (Ausschnitt)

Akademie der Künste, Berlin, Bernd-Alois-Zimmermann-Archiv I.68.3l. Mit freundlicher Genehmigung Akademie der Künste Berlin, Bernd-Alois-Zimmermann-Archiv und Bettina Zimmermann

Bernd Alois Zimmermann-Gesamtausgabe – Historisch-kritische Ausgabe seiner Werke, Schriften und Briefe

Die Bernd Alois Zimmermann-Gesamtausgabe (BAZ-GA) legt die musikalischen Werke Zimmermanns, seine Bearbeitungen fremder Werke, seine Schriften und eine Auswahl an Korrespondenz in einer historisch-kritisch edierten Form vor. Dabei erscheinen die Schriften sowie Briefe in einer kommentierten Edition. Die BAZ-GA erscheint als Hybrid-Ausgabe, die aus einer herkömmlich in Bänden erscheinenden Druckausgabe und einer digitalen, internetbasierten Edition besteht. Geplant sind elf Abteilungen musikalische Werke mit insgesamt 30 Bänden, z. T. mit Teilbänden, sowie zwei Abteilungen Schriften (2 Bände) und Briefe (4 Bände). (Stand: JB 2022).
Träger und Herausgeber: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz.

Projektleiterin: Prof. Dr. Dörte Schmidt, Arbeitsstellenleiter: Dr. Matthias Pasdzierny (Berlin), Dr. Adrian Kuhl (Frankfurt)

Laufzeit: 2016–2040