Sprechen Sie Ewenkisch? INEL-Projekt erschließt indigene nordeurasische Sprachen
Ewenkisch, Selkupisch, Kamassisch, Dolganisch – in der Russischen Föderation existiert eine Vielfalt indigener Sprachen, die akut bedroht oder ausgestorben sind. Warum es von großer Bedeutung ist, sie zu erschließen und zu bewahren, erläutert Prof. Dr. Beáta Wagner-Nagy, Leiterin des Akademieprojekts „INEL“ an der Akademie der Wissenschaften in Hamburg.
Dass Sprachen aussterben und neue entstehen, könnte man als gegeben hinnehmen. Warum ist es so wichtig, indigene nordeurasische Sprachen zu bewahren, Frau Prof. Wagner-Nagy?
Sicherlich kann man es als natürlichen Prozess ansehen, dass Sprachen aussterben. Doch mit den Sprachen verschwinden auch Kulturen – unsere jetzige Zeit beschleunigt das gewaltig. In Sibirien sehen wir, wie die immense sprachliche und kulturelle Vielfalt verloren geht: So sprechen zum Beispiel lediglich noch rund 5000 Menschen im östlichen Teil Sibiriens Ewenkisch. Da sich das Sprachareal vom Eismeer bis zur chinesischen Grenze Russlands und in West-Ost-Richtung vom Jenissei bis zum Pazifik erstreckt, ist diese Sprache zudem stark von Dialekten geprägt, die es zu erforschen lohnt. Dolganisch wiederum ist noch weniger verbreitet: Nur noch rund 1000 Menschen sprechen diese Sprache, und zwar auf der Taimyrhalbinsel und in angrenzenden Gebieten im äußersten Norden Sibiriens in Russland. Das Kamassische hingegen gilt schon seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als quasi ausgestorben, und doch gibt es dazu noch Tonaufnahmen von der letzten Sprecherin und weitere Archivmaterialien.
Aus diesem Grund haben wir uns dem Ziel verschrieben, die sprachlichen Ressourcen ausgewählter indigener Sprachen und Varietäten des nordeurasischen Raumes zu finden und zu erschließen. Wir beschäftigen uns allerdings nicht mit der Revitalisierung dieser Sprachen, sondern mit ihrer Analyse und der Bewahrung des kulturellen Erbes. Wir erleben immer wieder, wie wichtig es den Menschen ist, dass ihre Sprachen erhalten bleiben. Sie sind stolz darauf, mit uns zusammenzuarbeiten und dankbar für das, was wir aus den vielfältigen Materialien machen.
Mit Ihrem INEL-Projekt tragen Sie existierende Materialien der einzelnen Sprachen zusammen, digitalisieren sie und ergänzen sie mit linguistischen Informationen. Wie finden Sie überhaupt die Zeugnisse dieser teils verlorenen Sprachen?
Zahlreiche Zeugnisse entdecken wir beispielsweise in handgeschriebenen Textsammlungen, analogen Tonaufnahmen oder Wortlisten in Archiven und Sammlungen, zum Beispiel in Hamburg, Helsinki, Moskau, St. Petersburg, Tartu oder in Tomsk. Seit 2016 arbeiten wir daran, diese zu erschließen. Zudem sind wir bei unseren Reisen in den nordeurasischen Raum im Austausch mit indigenen Sprecherinnen und Sprechern.
Auf diesen Grundlagen können wir nicht nur die jeweiligen Sprachen erschließen, sondern auch die Wanderungsbewegungen der Völker nachvollziehen. Wir suchen etwa nach Ortschaften, über die berichtet wird, versuchen nachzuvollziehen, wo sie lagen und wie sich die Sprachen verbreitet und verändert haben. Das ist Detektivarbeit! Und es kommen neue Sprachen hinzu, die es zu erkunden gilt, Nganasanisch, Enzisch und Nenzisch zum Beispiel.
Welche Kompetenzen sind denn erforderlich, um Sprachen zu erforschen, die nicht oder kaum noch gesprochen werden?
Da in diesem Sprachraum alle Sprecherinnen und Sprecher Russisch können und die Übersetzungen der Materialien auf Russisch vorliegen, sind Russischkenntnisse erforderlich. Mindestens ebenso wichtig sind tiefgehende linguistische Kenntnisse, Neugier und Ausdauer. Über die intensive Auseinandersetzung mit den Sprachen und natürlich mit den nötigen Vorkenntnissen und Erfahrungen können wir ihnen auf den Grund gehen und sie verstehen. Aber wir erlernen diese Sprachen nicht.
Stichwort Oral History: Lassen Sie auch Zeitzeuginnen und Zeitzeugen frei aus ihrem Leben erzählen?
Durchaus. Allerdings sind Radioaufnahmen, in denen zum Beispiel Dolganen miteinander sprechen, wesentlich authentischer als Interviews mit uns Ausländern. Im INEL-Projekt haben wir unterschiedliche Materialien des Dolganischen, etwa folkloristische Texte oder Radioaufnahmen, zusammengetragen und aufgearbeitet. Auch im Kamassischen haben wir Tonaufnahmen der letzten Sprecherin der Sprache, Klavdija Plotnikova, die im Jahr 1989 verstorben ist, genutzt. Gleiches gilt für das Selkupische, die letzte noch gesprochene südsamojedische Sprache. Hier bearbeiten wir zum Beispiel Tonaufnahmen aus den 1960ern, das heißt, zunächst digitalisieren wir sie, dann werden sie glossiert und linguistisch annotiert.
Und all das fließt in die sogenannten Sprachkorpora ein, richtig?
Ja, unser Projekt ist digital ausgerichtet. Wir bereiten diese einzigartigen Daten digital auf, tragen sie in Sammlungen zusammen und ergänzen sie mit einer Fülle weiterer linguistischer Informationen sowie Übersetzungen ins Russische, Englische und Deutsche. Diese Korpusdaten stellen wir für die weitere Forschung und den indigenen Sprechergemeinschaften zur Verfügung. Online sind bereits seit einiger Zeit die Korpora für Kamassisch, Dolganisch und Selkupisch I (2016–2018), verfügbar, zum Ende des Jahres 2021 haben wir Selkupisch II (2018–2021) und Ewenkisch finalisiert und unter Open-Access-Bedingungen online zugänglich gemacht. Wir lieben Sprachen!
INEL Projekt
INEL – Grammatiken, Korpora und Sprachtechnologie für indigene nordeurasische Sprachen (Indigenous Northern Eurasian Languages) ist ein auf 18 Jahre angelegtes Langzeitvorhaben des Akademienprogramms. Ziel ist das Auffinden und die Erschließung sprachlicher Ressourcen ausgewählter indigener Sprachen und Varietäten des nordeurasischen Raumes. Das Projekt wird von der Akademie der Wissenschaften in Hamburg in Kooperation mit der Universität Hamburg durchgeführt.
Die Finnougristik/Uralistik besitzt gegenwärtig in Deutschland drei Universitätsstandorte: an der LMU München, am Finnisch-Ugrischen Seminar an der Universität Göttingen und an der Universität Hamburg. Am Institut für Finnougristik/Uralistik der Universität Hamburg wird Finnougristik/Uralistik als eine empirische und vergleichende Sprach- und Kulturwissenschaft verstanden und betrieben. Der Schwerpunkt liegt dabei insbesondere auf der typologischen Beschreibung der uralischen Sprachen. Die Fennistik sitzt in Köln und Greifswald, wohingegen die Hungarologie als Bachelor-Studiengang in Berlin angesiedelt ist.
Wir bitten um Ihre Mithilfe!
Um diese Website bestmöglich an Ihrem Bedarf auszurichten, nutzen wir Cookies und den Webanalysedienst Matomo, der uns zeigt, welche Seiten besonders oft besucht werden. Ihr Besuch wird von der Webanalyse derzeit nicht erfasst. Sie können uns aber helfen, indem Sie hier entscheiden, dass Ihr Besuch auf unseren Seiten anonymisiert mitgezählt werden darf. Die Webanalyse verbessert unsere Möglichkeiten, unseren Internetauftritt im Sinne unserer Nutzerinnen und Nutzer weiter zu optimieren. Es werden keine Daten an Dritte weitergegeben. Weitere Informationen hierzu finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.