Tiefe Einblicke in die NS-Zeit: Der Dienstkalender Heinrich Himmlers
Lange Zeit galten die Dienstkalender Heinrich Himmlers für die Jahre 1943/44 als verschollen, dabei lagen sie im Zentralarchiv des russischen Verteidigungsministeriums (CAMO) in Podolsk bei Moskau. Das Deutsche Historische Institut (DHI) Moskau hat sie entdeckt und in zwei Forschungsprojekten bearbeitet. 2020 erschien die Edition bei Piper.
SS-Chef Heinrich Himmler (1900-45) gilt im Machtgefüge der Nationalsozialisten als zweiter Mann nach Adolf Hitler – als Organisator der Konzentrationslager, als Architekt des deutschen Vernichtungsfeldzuges in Osteuropa und des Massenmords an den europäischen Juden. Er führte penibel Diensttagebuch. Mehr als siebzig Jahre nach Kriegsende sind diese Aufzeichnungen dank gemeinsamer deutsch-russischer Anstrengungen der Öffentlichkeit zugänglich.
„Von Deutschland aus hätte es keinen Zugang zu diesen verschollen geglaubten Dokumenten gegeben. Dies war nur möglich, weil sich das Deutschen Historischen Instituts (DHI) Moskau durch seine ständige Präsenz vor Ort und die gemeinsame wissenschaftliche Arbeit das Vertrauen zahlreicher russischer Partner erworben hat“, erläutert Dr. Sandra Dahlke, Direktorin des DHI Moskau, und betont: „Dieses Vertrauen ist eine sehr wichtige Voraussetzung dafür, dass wir heute bei allen Schwierigkeiten so sensible Themen wie den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und die unvorstellbaren Verbrechen der Besatzungsherrschaft gemeinsam dokumentieren und erforschen können“.
Von wegen verschollen
Himmlers Dienstkalender gingen durch viele Hände. Im Sommer 1944 brachte die SS wichtige Akten zum Schloss Wölfelsdorf in Niederschlesien, um sie vor den Luftangriffen der Alliierten zu schützen. Was auch gelang, allerdings gerieten die 2600 Kisten mit deutschen Dokumenten in die Hände der Sondereinheiten der Roten Armee und des Geheimdienstes NKWD. Im Spätherbst 1945 kamen sie nach Moskau, im März 1946 zusammen mit anderen ausländischen Beuteakten ins neugeschaffene Sonderarchiv des Innenministeriums der UdSSR.
1954 übernahm der KGB die Bestände, dort blieben die meisten dieser Akten bis zum Ende der Sowjetunion. Wahrscheinlich Ende der 1950er / Anfang der 1960er Jahre übergab das Sonderarchiv des KGB einen Teil dieser Bestände dem Archiv des Verteidigungsministeriums der UdSSR, dem heutigen Zentralarchiv des russischen Verteidigungsministeriums (CAMO). Es handelte sich vor allem um Dokumente der Wehrmacht und SS, insgesamt mehrere Tausend Akteneinheiten, darunter auch Himmlers Dienstkalender aus den Jahren 1938, 1943 und 1944.
Diese Bestände waren bis zum Ende der Sowjetunion nicht zugänglich und auch danach nur für einige wenige Spezialisten. Anfang der 1990er Jahre wurden dann im Sonderarchiv des KGB die Dienstkalender für die Jahre 1941/42 „entdeckt“ und 1999 veröffentlicht. Die Aufzeichnungen für die Jahre 1937/38 und 1943/44 galten aber weiterhin als verschollen. „Erste Vermutungen, dass sie sich im Archiv des Verteidigungsministeriums in Podolsk befinden könnten, gab es bereits 2010. Drei Jahre später haben wir dort tatsächlich zwei dicke Ordner mit den verschollen geglaubten Terminblättern Himmlers gefunden“, so Dahlke.
„Der Zugang wurde ermöglicht, weil es dem Deutschen Historischen Institut in Moskau 2013 gelungen ist, mit dem Verteidigungsministerium der Russischen Föderation und dessen Zentralarchiv die komplette Digitalisierung der dort befindlichen deutschen Unterlagen zu vereinbaren“, erklärt DHI Direktorin Dahlke, „Seither arbeiten die am Projekt beteiligten deutschen und russischen Wissenschaftler gut und vertrauensvoll zusammen“.
DHI-Forschung zu deutschen Akten in russischen Archiven
Die deutschen Akten im Zentralarchiv des russischen Verteidigungsministeriums (CAMO) werden seit 2013 mit dem Digitalisierungsprojekt unter der Leitung von Sergey Kudryashov, Matthias Uhl und Eugen Bastron (IT) für die internationale Forschung erschlossen und fortlaufend open-access auf der Webseite "German Docs in Russia" zugänglich gemacht. Die digitalisierten Aktenkopien werden zudem laufend an das deutsche Bundesarchiv übergeben. Die Erschließung und Digitalisierung von Archivgut deutscher Provenienz soll in den nächsten Jahren auch in anderen Archiven der Russischen Föderation weitergeführt werden.
Das zweite DHI-Projekt widmete sich unter der Leitung von Dr. Matthias Uhl und Prof. Dieter Pohl den Dienstkalendern Heinrich Himmlers aus den Jahren 1943–1944 und 1937–1938. Ihre Arbeit für die letzten beiden Kriegsjahre ist ebenfalls bereits der Öffentlichkeit zugänglich.
Minutiöse Einblicke ins NS-Grauen
Seit Mai 2020 liegen die Eintragungen in dem Band "Die Organisation des Terrors. Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1943–1945" (2020), herausgegeben von Martin Holler, Jean-Luc Leleu, Dieter Pohl, Thomas Pruschwitz und Matthias Uhl, erstmals ediert und historisch kommentiert vor. Mehr als 1000 Seiten Dienst-, Tischkalender- und Telefonbuchnotizen von Himmler und seinen Adjutanten geben Einblicke in die Planung und Durchführung zahlloser NS-Verbrechen, Tag für Tag, Minute für Minute.
Daraus wird klar, wann, wo und mit wem sich Himmler zwischen 1943 und 1944 traf und wer zum Machtzirkel gehörte. Das Forschungsteam um Dr. Matthias Uhl vom DHI in Moskau und Prof. Dieter Pohl von der Universität Klagenfurt hat die nüchternen Eintragungen über Treffen, Reisen und Vorträge kommentiert und für Forschung und Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dank dieser akribischen Forschungsleistung ermöglicht es die Edition, die 2020 im Piper Verlag erschienen ist, die Alltagsroutinen, die Netzwerke und Arbeitsweisen Himmlers und seiner Entourage genau nachzuvollziehen. Sie erschließt darüber hinaus umfangreiches Material für weitere Forschungen und regt damit zu weiteren Studien zum Untergang der NS-Diktatur an.
Interview mit Dr. Matthias Uhl
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut Moskau und Mitherausgeber des Buchs „Die Organisation des Terrors – der Dienstkalender Heinrich Himmlers“
Herr Dr. Uhl, bitte geben Sie uns einen persönlichen Einblick in die Arbeit und den Umgang mit diesen Texten.
„Bei der Arbeit mit den Quellen überraschte das hohe Ausmaß von Korruption in den Führungskreisen der SS. Himmler, der sich vor Untergebenen immer wieder als Moralapostel aufspielte, ließ nicht nur wertvolle Uhren und goldene Füllfederhalter ermordeter Juden an SS-Offiziere und KZ-Schergen verteilen. Er deckte, wenn es ihm genehm war, Veruntreuung, sexuellen Missbrauch und andere Straftaten seiner Getreuen, während er gleichzeitig weniger prominente Personen bei den gleichen Vergehen mit Haft oder gar der Todesstrafe belegte.
Zugleich bestätigt sich immer wieder die Banalität des Bösen. Am 6. Januar 1943, nach einem Telefonat mit Frau und Tochter, der er den Kosenamen „Püppi“ gegeben hatte, erließ Himmler einen Befehl zur Errichtung eines Sammellagers für die Kinder ermordeter Partisanen auf dem Gelände des KZ Lublin. Nur zwei Tage nachdem er im Vernichtungslager Sobibor die Tötung von 200 jüdischen Mädchen und Frauen in Augenschein genommen hatte, suchte der Reichsführer-SS Zerstreuung bei seiner Geliebten Hedwig Potthast“.
Was bedeutet dieser Fund für die Forschung? Wie ist die Resonanz in der Forschung und darüber hinaus?
„Die Aufzeichnungen des Diensttagebuches ermöglichen der Forschung einen bis dahin nicht für möglich gehaltenen Blick auf den Organisator des NS-Massenmords in den letzten beiden Kriegsjahren. Sichtbar werden die bürokratischen Prozesse und die pure Gewalt, die dessen Amtsführung prägte. Der Dienstkalender ermöglicht es, Himmler, der die Verantwortung für den Tod von Millionen Menschen trägt, über die Schulter zu schauen. Er zeigt sich dabei als Multifunktionär, der nahezu alle Bereiche der NS-Politik regeln wollte: Kriegführung, Rüstung, Innenpolitik, Massenmord, Besatzungsherrschaft. Zugleich wird deutlich wie in der Hitler-Diktatur die Staatsspitze bis ganz nach unten durchgreifen und Menschen das Leben zur Hölle machen konnte. Das breite Medienecho belegt, dass selbst mehr als 70 Jahre nach Kriegsende die Öffentlichkeit solche Publikationen immer noch mit großem Interesse aufnimmt“.
Wissen Sie von weiteren und historisch ähnlich relevanten Dokumenten in den Archiven des CAMO und arbeiten an deren Veröffentlichung?
„Ab dem nächsten Jahr werden wir die Herausgabe der Dienstkalender Himmlers für die Jahre 1937/38 angehen“.
Deutsches Historisches Institut Moskau
Das Deutsche Historische Institut in Moskau (DHI Moskau) setzt sich seit seiner Gründung im Jahr 2005 dafür ein, die wissenschaftliche Zusammenarbeit von Historikern aus Russland und Deutschland zu fördern. Es ist eines von insgesamt zehn geisteswissenschaftlichen Forschungseinrichtungen im Ausland (in Rom, Paris, London, Washington, Warschau, Tokio, Beirut und Istanbul), die unter dem Dach der in Bonn ansässigen, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten Max Weber Stiftung stehen und in ihren jeweiligen Gastländern ähnliche Zielsetzungen verfolgen.
DHI Projekt „Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1943–1945, 1937–1938“
Im Rahmen des Projekts wurde eine zweibändige kommentierte wissenschaftliche Publikation des Diensttagebuchs Heinrich Himmlers für die Zeitabschnitte 1943–1945 und 1937–1938 vorbereitet. Sie gibt wichtige Einblicke in die politische Praxis und Entscheidungsweisen in dem bisher kaum erforschten Zeitraum 1943 bis 1945.
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