Welten verbinden: Gesamtwerk des Naturforschers Johann Friedrich Blumenbach
Wie entsteht neues Wissen? Und wer sind wir Menschen? Der deutsche Naturforscher Johann Friedrich Blumenbach (1752 – 1840) war einer der ersten, der den Menschen als Teil der Naturgeschichte global untersuchte. Tiefe Einblicke in seine Weltsicht ermöglicht die Edition des Gesamtwerks „Johann Friedrich Blumenbach – Online“ der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen.
Vielen sagt der Name Blumenbach eigentlich nichts – und doch hat er das Denken über die Natur für ein ganzes Jahrhundert geprägt: „Blumenbach war einer der einflussreichsten Naturforscher in der Zeit zwischen Carl Linné und Charles Darwin. Er war einer der ersten, der zu der Erkenntnis kam, dass die Entstehung der Arten, ja überhaupt des Lebens, auf natürliche Gesetzmäßigkeiten zurückgeführt werden kann“, weiß Projektleiter Prof. Dr. Gerhard Lauer.
Für ihn ist klar: Blumenbachs Werke und naturhistorische Sammlungen sind exemplarisch für eine Epoche, die Wissen nicht mehr nur in den Büchern früherer Forscher suchte, sondern vor allem in der Natur selbst. „Von ihm haben Goethe und die Brüder Humboldt gelernt, wie die Natur zu erforschen ist. Von ihm stammt auch die Erkenntnis, dass die Menschen in all ihren ‚Varietäten‘ gleich sind. Blumenbach ist daher einer der Begründer des wissenschaftlichen Antirassismus“, heben Lauer und sein Kollege Prof. Dr. Nicolaas Rupke hervor und ergänzen: „Damals wie heute werden Blumenbachs Schriften und seine naturkundlichen Sammlungen oft um- oder fehlinterpretiert – ein Grund mehr, Blumenbachs Gesamtwerk zu erforschen und zugänglich zu machen, etwa mit Symposien und dazu veröffentlichten Publikationen. Mit Wissen kann man zur Versachlichung von Debatten beitragen.“
Wieder vereint: Werke und Sammlungen
Mit dem Projekt „Johann Friedrich Blumenbach – Online“ entsteht seit 2010 eine Neuausgabe von Blumenbachs Originaltexten, inklusive der Folgeauflagen, in die Blumenbach das jeweils neueste Wissen eingearbeitet hat, nebst zahlreicher Übersetzungen. Zudem dokumentiert das Projekt Blumenbachs Korrespondenz und erschließt die zeitgenössische wie die spätere Rezeption seiner Arbeit. Ganz wichtig sind die naturhistorischen Objekte, die – wenn auch zerstreut – noch heute vorhanden sind. Rund 4.500 Objekte werden digitalisiert sowie fachwissenschaftlich und wissenschaftshistorisch erschlossen.
„Als das Blumenbach-Projekt vor 20 Jahren konzipiert wurde, waren rein digitale Editionsvorhaben noch Neuland“, erinnert sich Lauer. „Unsere Idee damals war, digitale Werkzeuge zu nutzen, um das Wissen über Blumenbach für die Welt zugänglich zu machen. Mit unserem Projekt bringen wir Texte und Objekte zusammen, verlinken Edition und Sammlung. Will man zum Beispiel etwas zum Stachelschwein und seiner Stellung in der damaligen Taxonomie des Tierreichs wissen, gibt die Edition Auskunft über den Finder und Fundort, über verschiedenste Forschungen bis hin zur Beschreibung in Blumenbachs Publikationen oder seinen Briefen. Dank des Akademieprojektes kommt alles wieder zusammen, virtuell. Dahinter steht natürlich immer auch ein kulturpolitischer Auftrag, das Wissen um die historischen Zusammenhänge unseres Denkens über das Leben und die Ordnung der Natur zugänglich zu machen.“
Blumenbachs Verbindung zu Göttingen
Dass das Akademieprojekt in Göttingen durchgeführt wird, hat gute Gründe: Blumenbachs wissenschaftliche Laufbahn ist eng mit der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen verknüpft. Mit Anfang zwanzig hielt er dort schon Vorträge, im Jahr 1775 promovierte er an der Medizinischen Fakultät der Universität Göttingen zum Thema „De generis humani varietate nativa“ (Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlecht). „Blumenbach kam zu dem Ergebnis, dass es zwischen den menschlichen Varietäten keine klaren Abgrenzungen, sondern nur fließende Übergänge gibt. Vor allem aber führe die Vielfalt des Phänotyps nicht zu intellektuellen Unterschieden zwischen verschiedenen menschlichen Populationen, wie andere damals behauptet hatten. Blumenbach publizierte also Belege für die verstandesmäßige Gleichwertigkeit aller Menschen“, stellt Lauer klar. Im Jahr 1776 wurde Blumenbach zum Professor der Medizin und Kustos des damaligen „Academischen Museums“ an der Georg-August-Universität Göttingen ernannt. Eines seiner berühmtesten Werke, das Handbuch der Naturgeschichte, erschien in erster Auflage 1779. Fünf Jahre später wurde er schließlich Mitglied der Akademie und veröffentlichte regelmäßig Abhandlungen. Auch Langzeitprojekte gab es damals schon, und zwar auf dem Gebiet der physischen Anthropologie: Zwischen 1790 und 1828 veröffentlichte er sieben Sammlungen u. a. mit Abbildungen und Beschreibungen menschlicher Schädel aus allen Teilen der Welt, verfasste über vierhundert Rezensionen und Beiträge für die von der Akademie herausgegebenen Publikationen. Doch das war längst nicht alles.
Von Göttingen in die Welt
Bei seinen Forschungen nahm Blumenbach die Welt in all ihren Facetten in den Blick – und das, obwohl er Göttingen so gut wie nie länger verließ. Im 18. Jahrhundert unternahmen europäische Wissenschaftler Forschungsreisen in die ganze Welt, und Blumenbach profitierte von deren Ertrag. Er war ein hervorragender Netzwerker mit Kontakten in die Zentralen der größten damaligen Kolonialreiche: London und St. Petersburg. Als passionierter Sammler und Forscher bat er Kollegen, Studenten und Freunde um die Zusendung von Mineralien, Fossilien, Meteoriten, anatomischen Präparaten, Pflanzen, kulturellen Artefakten und sogar lebenden Tieren. So gelangte er an Informationen und Forschungsobjekte aus Grönland, Sibirien, den Anden und dem Amazonasgebiet, aber ebenso aus Afrika, Südostasien, dem pazifischen Raum und Australien. „Blumenbachs Werk ist daher auch eine herausragende Quelle für die Geschichte der Entdeckungen und des Kolonialismus. So erhielt er beispielsweise eines der ersten Exemplare des in Australien entdeckten Schnabeltiers, das hierzulande noch ebenso wenig bekannt war wie ein Känguru. Er beschrieb es und gab ihm seine wissenschaftliche Bezeichnung“, erzählt der Projektmitarbeiter Wolfgang Böker, „Auch einige seiner Studenten und später bedeutende Forschungsreisende – etwa Alexander von Humboldt, Georg Heinrich von Langsdorff und Maximilian zu Wied-Neuwied – schickten ihm Objekte für seine Sammlungen.“
Vernetzung und Transfer
Überhaupt ist es erstaunlich, wie weit oben wissenschaftliches Netzwerken und Transfer damals schon auf der Forschungsagenda standen: Blumenbach erhielt Objekte aus aller Welt, die in seine Forschungen, Publikationen und Vorlesungen einflossen, was ihm wiederum zu Renommee verhalf und zahlreiche Studenten aus dem Ausland anzog. Blumenbachs Publikationen wurden in viele europäische Sprachen übersetzt und auch in den USA nachgedruckt, auch gezielte Falschübersetzungen, die bis heute in den USA kursieren. „So kam es zu einem internationalen wissenschaftlichen Dialog mit allen hellen und dunklen Seiten – via Brief, Vorlesung, Rezension, Beiträgen in Fachzeitschriften und Monographien. Und dabei ging es besonders um die Wissenschaft vom Menschen, in seinen körperlich-medizinischen, sozial-politischen und kulturellen Aspekten“, betont die Projektmitarbeiterin Nadine Schäfer, „und diesen Dialog führen wir weiter. Unser Projekt ist mittlerweile auch zur Anlaufstelle internationaler Forscherinnen und Forscher geworden, die sich mit dem Thema Rassismus beschäftigen.“
Neues Portal ab Herbst 2023
Alle bisher im Akademieprojekt erarbeiteten Materialien – und das sind unfassbar viele – stehen nebst Projektpräsentation auf der Internetseite Johann Friedrich Blumenbach – Online bereit. Die Verknüpfung von Werken und Sammlungsobjekten läuft derzeit noch im Hintergrund, auf Anfrage ist schon jetzt ein Login möglich. Voraussichtlich ab Herbst 2023 geht ein neues, interaktives und benutzerfreundliches Portal für die Nutzung sämtlicher bis dahin erarbeiteter Verlinkungen von Texten und Objekten online. Durch diese Verknüpfung wird für alle deutlich, wie unendlich groß die Welt damals schon für Blumenbach war, wie genau er sie erforscht hat und wie wissenschaftlicher Austausch die Forschung bereichert hat – bis heute.
Autorin: Katrin Schlotter
Das Editionsprojekt Johann Friedrich Blumenbach – Online
Das Editionsprojekt Johann Friedrich Blumenbach – Online der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen erforscht und verknüpft die Publikationen und naturhistorischen Sammlungen Johann Friedrich Blumenbachs (1752–1840), der u. a. als Begründer der physischen Anthropologie von wissenschaftshistorischer Bedeutung ist. Das Projekt erschließt und digitalisiert die Texte und die erhaltenen Sammlungsobjekte. Es indiziert und kommentiert die Materialien und stellt sie als Quellen zur Entstehung der modernen Naturwissenschaften in einem Fach- und Themenportal für die geistes- und naturwissenschaftliche Forschung zur Verfügung.
Projektleitung: Prof. Dr. Gerhard Lauer, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Laufzeit: 2010-2025
Blumenbachs Sammlungsobjekte
Die Vielzahl der auf Blumenbach zurückgehenden Sammlungsobjekte speist sich aus seiner langjährigen Tätigkeit als Hauptverantwortlicher für das 1773 gegründete „Academische Museum“ der Universität Göttingen. Noch heute ist ein Großteil dieser Sammlung in den verschiedenen Fachbereichen erhalten, so dass die Gesamtheit als eine der ältesten noch erhaltenen universitären Sammlungen angesehen werden kann. Den größten Anteil am Wachstum der Bestände hatte zweifelsohne Blumenbach, vor allem durch bedeutende Zugänge wie beispielsweise der Cook/Forster-Sammlung, welche sich heute in der Ethnologischen Sammlung der Universität befindet. Darüber hinaus legte er eine umfangreiche Privatsammlung an, die nach seinem Tod von der Universität angekauft wurde. Teil seiner Privatsammlung war auch seine damals berühmte Schädelsammlung, welche heute im Zentrum Anatomie der Universitätsmedizin aufbewahrt wird. Diese Schädelsammlung ist noch heute für die Wissenschaft interessant: So stellen die Schädel, die Spuren von Mangelernährung wie etwa Skorbut oder Infektionskrankheiten wie beispielsweise Syphilis sowie äußere Gewalteinwirkungen aufweisen, für die medizinhistorische und paläopathologische Forschung wichtige Vergleichsfälle dar, die über Krankheiten und ärztliche Hilfeleistung in der späten Neuzeit berichten.
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