Zeitreise per APP: Interview mit Prof. Dr. Daniel Bellingradt
Mit Webseite und Apps erweckt ein internationales Forscherteam versteckte Einblicke in europäische Städte: Hidden Cities. Prof. Dr. Daniel Bellingradt, Juniorprofessur für Buchwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), und die wissenschaftliche Mitarbeiterin Claudia Heise haben die Hamburg-App entwickelt – genau zur richtigen Zeit in der Corona-Pandemie.
Herr Prof. Bellingradt, worum geht es im HERA-Projekt „PURE“ und welche Rolle spielen dabei die interaktiven Stadttouren durch die Geschichte europäischer Städte?
In unserem Projekt beleuchten wir, wie der öffentliche Raum in europäischen Städten im Zeitraum von 1450 bis 1700 genutzt wurde und setzen unsere Forschung in einen Dialog zur Gestaltungskraft des öffentlichen Raums heutzutage. Zum Beispiel fragen wir konkret: Wie prägten normale Einwohnerinnen und Einwohner das Leben einer Stadt – und wie prägte der Stadtraum das soziale Verhalten? Lassen sich in den historischen Blicken Erkenntnisse zu Raumnutzungen in Städten der Gegenwart erkennen?
Wir wollen mit unserem Projekt eine Auseinandersetzung mit dem Stadtraum im Heute und Gestern ermöglichen. Und zu diesem Zweck haben wir interaktive Stadttouren durch Hamburg, Trient, Valencia, Exeter und Deventer entworfen. Sie sind mehrsprachig und stehen kostenlos zum Download auf der Webseite von „Hidden Cities“ bereit. Die vorbereiteten Stadttouren, zum Beispiel in Hamburg durch das Jahr 1686, lassen sich wahlweise als Zeitreise am Bildschirm nutzen oder vor Ort, in der jeweiligen Stadt, mit einer geolokalisierten App. „Mobile storytelling“ heißt das Zauberwort für diese Stadttouren: Wer mag, geht in einer historischen Karte mit GPS-Ortung und Smartphone durch die Straßen und Plätze der vorbereiteten Stadttour.
Mit der App möchten Sie Geschichte so gegenwärtig wie möglich machen. Was können die Nutzer*innen bei der Tour durch Hamburg des Jahres 1686 erleben?
Unsere Stadttour mit sieben Stationen ist eigentlich ein Spaziergang durch Hamburg mit einer geolokalisierten historischen Karte des Jahres 1686 und einer aktuellen Stadtkarte. Als virtueller Stadtführer stellt sich Johann vor. Johann lebt im Jahr 1686 in Hamburg und ist Papierhändler von Beruf. Zu diesem Zeitpunkt ist Hamburg die zweitgrößte Stadt des Heiligen Römischen Reiches und eine Nachrichtenhochburg – bekannt für ihre vielen Druckereien. Und Johann führt in ein aufgewühltes Hamburg, in dem gerade erst zwei Hamburger Politiker öffentlich hingerichtet und Flugschriften verbrannt worden sind, und allerlei Gerüchte in den Kaffeehäusern und Gaststätten im Umlauf sind. Unser Tourguide Johann begibt sich auf die Jagd nach diesen Flugschriften und Gerüchten und führt die App-Nutzer so in Buchhandlungen und Kirchen, zu Zeitungsständen auf Marktplätzen, in ein Kaffeehaus und zum Opernhaus.
Während rund 70 Minuten geht es zu ausgewählten Stationen durch Hamburg, an denen sich jeweils per GPS-Tracking eine Etappe in der Geschichte aktiviert. Es gibt überall Audio-Erklärungen, Geschichten von Johann, und viele weitere Erklärungen in Bild und Text zu den angesprochenen Objekten und Themen.
Mit dieser Geschichte und Museumsobjekten u.a. aus dem Museum für Hamburgische Geschichte sowie Archivmaterial eröffnen wir einen hoffentlich lebendigen Eindruck von Hamburg vor rund 350 Jahren. Es sollen Einblicke in die bislang eher versteckte Geschichte der Stadt gewährt werden, die durch zusätzliche Beiträge auf der Projekt-Webseite noch vertieft werden. Alle Stationen sind natürlich auch virtuell – also ohne GPS-Tracking und echte Bewegung durch Hamburg – am Bildschirm erleb- und abrufbar. Nicht nur während der Pandemie kann man also auf historische Reise durch Hamburg gehen, ohne in Hamburg sein zu müssen. Schulklassen, Hochschulseminar und interessierte Nutzerinnen und Nutzer können über unsere App und Webseite in eine zu oft übersehene Epoche der Hamburger Geschichte eintauchen und dort, wenn es gewünscht wird, weiterführende Einblicke in Mediengeschichte und Stadtforschung erhalten. Die Stadttour zeigt vorhandene Spuren aus der Epoche „Frühe Neuzeit“, die heute noch in Hamburg präsent und erlebbar sind.
Wie ist es Ihnen gelungen, Ihre Forschungen digital/technisch umzusetzen?
Unser Forschungsprojekt baut auf Erfahrungen und technischen Lösungen auf, die für die App „Hidden Florence“ erfolgreich erprobt worden sind. Wir arbeiten mit verschiedenen Informatikern zusammen und vor allem mit der britischen Agentur „Calvium“. „Calvium“ hat die nötigen Software-Lösungen unserer Apps entwickelt und mit uns in einem monatelangen Prozess gemeinsam verfeinert.
Hier geht’s zur Zeitreise:
Ab sofort können Interessierte auf der Homepage von Hidden Cities und Hidden Hamburg per App auf Zeitreise gehen und Hamburg sowie weitere Städte neu entdecken: sich Objekte anschauen, Aktivitäten erkunden, die Orte spielerisch miteinander vergleichen – und in einen Dialog mit der heutigen Welt setzen. Die Apps sind auf dem Google Play Store (Android) und dem Apple App Store kostenlos zum Download verfügbar.
Bildergalerie: Screenshots der App „Hidden Cities: Hamburg"
Das HERA-Projekt “PURE”
Laufzeit: 2019-2023 Projektgruppe: Prof. Dr. Daniel Bellingradt, Claudia Heise, M.A., FAU Erlangen-Nürnberg Drittmittelgeber: HERA (Humanities in the European Research Area) FAU-Projektpartner: die niederländische Rijksuniversiteit Groningen, die britische University of Exeter, die spanische Universitat de València und das Italienisch-Deutsche Historische Institut in Trient
HERA: „PUblic REnaissance: Urban Cultures of Public Space between Early Modern Europe and the Present“ (PURE)
„PUblic REnaissance: Urbane Kulturen des öffentlichen Raums zwischen dem frühneuzeitlichen Europa und der Gegenwart“ ist ein dreijähriges Projekt, das von der Humanities in European Research Area (HERA) im Rahmen des "Joint Research Programme" Public Spaces: Kultur und Integration in Europa. An dem Projekt sind Forscher von Universitäten in Italien, Deutschland, den Niederlanden, Spanien und Großbritannien beteiligt. Mit dem Portal "Hidden Cities" (Verborgene Städte) rücken die Forschenden die oft übersehene oder verborgene Geschichte der Städte Exeter, Valencia, Hamburg, Deventer und Trento in neues Licht.
Als transnationales geisteswissenschaftliches Forschungsprojekt wird PURE, das von 2019 bis 2023 läuft, mit einer Million Euro gefördert. Finanziert wird das deutsche Projekt des „Humanities in the European Research Area“ (HERA) vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Im HERA-Netzwerk arbeiten 26 europäische Forschungsförderer und die EU-Kommission zusammen, um Geisteswissenschaften im Europäischen Forschungsraum und in den EU-Forschungsrahmenprogrammen sichtbar zu machen.
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