Artifizieller Klangrausch: die Edition der Werke von Richard Strauss

Schon als Fünfundzwanzigjähriger sorgte der Komponist und Dirigent Richard Strauss für Furore. Er schuf rund 500 Kompositionen, darunter mehr als ein Dutzend großer Opern wie Salome, Elektra oder Rosenkavalier, zehn Tondichtungen und rund 170 Lieder. Bis heute bringt er jede Stimme, jedes Orchester zum Leuchten – und manch eine unbekannte Fassung wartet nur darauf, zu erklingen.

Prof. Dr. Hartmut Schick

Prof. Dr. Hartmut Schick, Ordinarius am Institut für Musikwissenschaft der LMU München und Leiter des 2011 begonnenen Akademieprojekts „Kritische Ausgabe der Werke von Richard Strauss“.

Christoph Olesinski, LMU München

Richard Strauss als über Achtzigjähriger beim Komponieren am Schreibtisch seiner Garmischer Villa (heute Sitz des Richard-Strauss-Archivs).

Richard Strauss als über Achtzigjähriger beim Komponieren am Schreibtisch seiner Garmischer Villa (heute Sitz des Richard-Strauss-Archivs).

Richard-Strauss-Archiv Garmisch-Partenkirchen

Der gebürtige Münchner Richard Strauss (1864–1949) zählt zu den bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Er war hochproduktiv – und auch international sehr erfolgreich. Seine Kompositionen wurden unmittelbar nach ihrer Entstehung gedruckt und schnell verbreitet – auch mit Fehlern, die niemand korrigierte. Für sein Lebenswerk lag bis vor Kurzem keine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende, quellenkritische Ausgabe vor.

„Kritische Ausgabe der Werke von Richard Strauss“

Seit 2011 erschließt das Akademieprojekt „Kritische Ausgabe der Werke von Richard Strauss“ sein umfangreiches Œuvre in all seinen Facetten und Fassungen und stellt es neu ediert der Musikwelt zur Verfügung – gedruckt und auch online. Das Langzeitprojekt der Bayerischen Akademie der Wissenschaften steht unter der Leitung von Prof. Dr. Hartmut Schick am Institut für Musikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Die Strauss-Ausgabe ist eines von insgesamt 18 Projekten des Akademieprogramms, die die Werke deutschsprachiger Komponisten edieren. Dank dieser Editionsprojekte können die großen Meister der Musik umfassend erforscht und in bestmöglicher Form neu gehört und aufgeführt werden.

Virtuose Kompositionen

Uraufführung Salome an der Dresdner Staatsoper 1930

Die Sopranistin Maria Rajdl, für deren lyrische Stimme Strauss eigens seine „Salome“ instrumentatorisch umgearbeitet hatte, bei der Uraufführung dieser Fassung an der Dresdner Staatsoper 1930 (vorne, in der Titelrolle).

Sächsische Staatsbibliothek Dresden

Was zeichnet das Werk von Richard Strauss aus? Die Antwort in wenige Worte zu fassen, gelingt Projektleiter Schick: „An Richard Strauss fasziniert die unglaubliche Virtuosität der Kompositionen sowie des Komponiervorgangs. Er beherrschte sein Handwerk perfekt. Mit traumwandlerischer Sicherheit schrieb er hyperkomplexe Partituren nieder. Und er brachte jedes Orchester zum Leuchten. Zugleich gelang es ihm, modern zu schreiben und dennoch ein großes Publikum anzusprechen. Bis heute sind Werke wie Don Juan, Till Eulenspiegel, Salome, Elektra oder Rosenkavalier Highlights im Konzert- und Opernleben.“

Das Akademieprojekt erfasst und erforscht nicht das gesamte Lebenswerk von Richard Strauss, aber doch den größten Teil. Dazu zählen die Bühnenwerke, genuinen Orchesterwerke, Lieder und Gesänge (mit Klavierbegleitung und mit Orchester). Auch die kammermusikalischen Werke sowie Fragmente, unterschiedliche Fassungen und eigene Klavierarrangements werden ediert, nicht aber Skizzen und Entwürfe. Die Basis hierfür bilden das Richard-Strauss-Quellenverzeichnis (RSQV) am Richard-Strauss-Institut Garmisch-Partenkirchen, ein Online-Katalog mit derzeit über 13.000 Datensätzen, sowie die gesamte, über die Welt verstreute Korrespondenz.

Spannende Editionsarbeit

Projektteam der „Kritischen Ausgabe der Werke von Richard Strauss“

Das Projektteam der „Kritischen Ausgabe der Werke von Richard Strauss“: die Wissenschaftlichen Mitarbeiter Dominik Leipold MSc. MA, Sebastian Bolz MA, Dr. Andreas Pernpeintner, Dr. Stefan Schenk, Dr. Claudia Heine und Dr. Adrian Kech sowie Projektleiter Prof. Dr. Hartmut Schick.

Forschungsstelle Richard-Strauss-Ausgabe

Tag für Tag leistet das Forschungsteam mit sechs wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wahre Detektivarbeit: Sie recherchieren, beschreiben und vergleichen Quellen, identifizieren Fehler und erklären im Kritischen Bericht, wo und warum sie etwas gegenüber der Leitquelle verändert haben. „Bei der Editionsarbeit sehen wir, wie viel Genialität, Intuition und Arbeit in den Strauss’schen Werken steckt“, erläutert Schick. „Es ist unglaublich spannend, immer wieder neue Varianten, alternative Fassungen oder Revisionen zu entdecken. Wenn wir uns so intensiv mit den Noten beschäftigen, haben wir das Gefühl, neben einem echten Genie zu sitzen.“

Erst wenn die Fassung letzter Hand erstellt und durchkorrigiert ist, gehen die Notenbände mitsamt Einleitung, neugesetzten Partituren und Kritischem Apparat (in dem die Quellen beschrieben, bewertet und verglichen werden) in den Druck. Die gesamte Edition wird zum Projektende im Jahr 2035 ca. 50 Bände umfassen. Sie erscheint im Verlag Dr. Richard Strauss, in Zusammenarbeit mit Boosey & Hawkes, Edition Peters Group und Schott Music. Zehn schwere Notenbände sind bereits erschienen, zwei weitere folgen noch in diesem Jahr.

Von der Forschung in die Musikpraxis

Die neuen Notenbände dienen nicht nur als Grundlage für künftige Aufführungen der Werke, sondern rücken Strauss‘ Werk oft auch in neues Licht, wenn zum Beispiel unbekannte Versionen erstpubliziert werden. So etwa bei der Tondichtung Macbeth, bei der frühen Cellosonate und auch bei der Oper Salome, die auf dem gleichnamigen französischen Drama von Oscar Wilde beruht. Im Sommer 2021 sind erstmals zwei alternative Fassungen des Werks in der Kritischen Ausgabe erschienen: die authentische, französische Salomé-Fassung von 1905 sowie die Dresdner Retouchen-Fassung von 1929/30, beide herausgegeben von Projektmitarbeiterin Claudia Heine.

Salomé und die Dresdner Retouchen-Fassung von 1929/30

Eine Seite aus der in der Kritischen Ausgabe erstmals edierten, von Strauss 1929 für die lyrische Sopranistin Maria Rajdl angefertigten neuen Dresdner Fassung der „Salome“, mit abgedämpftem Orchestersatz – hier: Streichung des kompletten Bläsersatzes durch Strauss und Vermerk: „Weg, nur Streicher“.

Eine Seite aus dem autographen Particell zur Oper „Salome“, in das Strauss nachträglich mit Bleistift die teilweise andersartigen Gesangsmelodien für die französische Fassung (mit Oscar Wildes Originaltext) eingetragen hat – von der Kritischen Ausgabe erstmals in Partitur ediert.

Richard-Strauss-Archiv Garmisch-Partenkirchen

Bei Salome wollte Richard Strauss für den französischen Markt mehr als eine bloße (Rück-)Übersetzung vorlegen. Daher griff er auf Oscar Wildes französischen Originaltext zurück und schrieb dazu die Gesangsstimmen vollständig neu, was damals einzigartig war. Diese Fassung als (so Strauss) „richtige französische Oper“ liegt nun erstmals als Partitur gedruckt vor.

Auch die in Vergessenheit geratene Dresdner Retouchen-Fassung von 1929/30 ist nun wieder aufführbar: Hier erschloss Strauss die Solopartie einer lyrischen (statt, wie bislang, hochdramatischen) Sopranstimme, die dem jugendlich-naiven Charakter der Titelfigur weit besser entspricht. Dafür musste er die Orchesterbegleitung stark auslichten und abdämpfen. Auch diese Fassung steht nun als interessante, zeitgemäße Aufführungsoption der Praxis zur Verfügung – und wurde bereits von der Bayerischen Staatsoper und dem Theater Luzern überzeugend umgesetzt.

„Wir wünschen uns natürlich, dass die Strauss-Werke künftig nur noch nur auf der Basis unserer Notentexte aufgeführt werden“, so Schick. „Dazu vergleichen wir erstmals sämtliche zu Lebzeiten entstandenen Quellen und rekonstruieren das Werk so, wie es wohl der eigentlichen und auch letzten Intention von Strauss entsprochen hat, mit Dokumentation aller Varianten.“

Strauss Open Access und online

Ergänzend zu den gedruckten Notenbänden stellt das Akademieprojekt umfassende Informationen auf der Online-Plattform zur Richard Strauss-Ausgabe bereit. Dort finden sich viele werkbezogene Briefe von und an Richard Strauss, frühe Rezensionen sowie Dokumentationen der Gesangstexte zu den Vokalwerken, die anschaulich zeigen, wie Strauss mit den Textvorlagen umgegangen ist. Jeweils ein Jahr nach Erscheinen der Bände stehen auch die Textteile der Bände, von den umfangreichen Einleitungen bis zu den Lesartenlisten, auf der Online-Plattform zur Verfügung. „Ein Service, der auch für Dramaturgen und Journalisten sehr interessant ist“, sagt Schick, „oder für Liebhaber zur Vorbereitung des nächsten Opernbesuchs.“

Portraitfotografie von Richard Strauss aus dem Jahr 1907.

Portraitfotografie von Richard Strauss aus dem Jahr 1907.

rechtefrei

Die vom Projekt bis 2035 in Zusammenarbeit mit dem Verlagskonsortium Dr. Richard Strauss, Schott Music, Edition Peters Group und Boosey & Hawkes zu publizierenden Partiturbände. Bislang liegen zehn Bände vor, zwei weitere kommen 2022 hinzu.

Die vom Projekt bis 2035 in Zusammenarbeit mit dem Verlagskonsortium Dr. Richard Strauss, Schott Music, Edition Peters Group und Boosey & Hawkes zu publizierenden Partiturbände. Bislang liegen zehn Bände vor, zwei weitere kommen 2022 hinzu.

Verlag Schott Music

Lena Neudauer, Julian Riem und Raphaela Gromes beim Präsentationskonzert zum Sonatenband im Januar 2020 in der Großen Aula der LMU München, bei dem die ganz eigenständige Frühfassung von Strauss‘ Cellosonate op. 6 nach 140 Jahren erstmals wiederaufgeführt wurde.

Lena Neudauer, Julian Riem und Raphaela Gromes beim Präsentationskonzert zum Sonatenband im Januar 2020 in der Großen Aula der LMU München, bei dem die ganz eigenständige Frühfassung von Strauss‘ Cellosonate op. 6 nach 140 Jahren erstmals wiederaufgeführt wurde.

Institut für Musikwissenschaft der LMU München

Screenshot aus der Textsynopse zur Oper „Elektra“ auf der Online-Plattform zur Ausgabe: links der von Strauss vertonte Text, rechts die Textvorlage, Hofmannsthals Tragödie. Unterschiede lassen sich nach verschiedenen Kategorien farbig anzeigen.

Screenshot aus der Textsynopse zur Oper „Elektra“ auf der Online-Plattform zur Ausgabe: links der von Strauss vertonte Text, rechts die Textvorlage, Hofmannsthals Tragödie. Unterschiede lassen sich nach verschiedenen Kategorien farbig anzeigen.

Forschungsstelle Richard-Strauss-Ausgabe

Eine Seite aus der Quellenkollation zur Tondichtung „Tod und Verklärung“.

Eine Seite aus der Quellenkollation zur Tondichtung „Tod und Verklärung“. Verglichen werden die Erstdrucke von Partitur und Stimmen, das Partiturautograph von 1889 und Strauss‘ Eigenabschrift von 1945.

Forschungsstelle Richard-Strauss-Ausgabe

Ein für die Edition von „Don Juan“ wichtiger Brief, in dem Strauss dem Dirigenten Hans von Bülow diverse Metronomzahlen und Hinweise zu Tempomodifikationen bei der Aufführung der Tondichtung mitteilt. Der Brief wird auf der Online-Plattform erstmals ediert.

Ein für die Edition von „Don Juan“ wichtiger Brief, in dem Strauss dem Dirigenten Hans von Bülow diverse Metronomzahlen und Hinweise zu Tempomodifikationen bei der Aufführung der Tondichtung mitteilt. Der Brief wird auf der Online-Plattform erstmals ediert.

Sammlung Musikgeschichte der Meininger Museen/Max-Reger-Archiv

Der Beginn des noch ganz andersartigen Finalsatzes der Erstfassung der Cellosonate op. 6 im Autograph und in der Erstedition im Rahmen der Kritischen Ausgabe.

Der Beginn des noch ganz andersartigen Finalsatzes der Erstfassung der Cellosonate op. 6 im Autograph und in der Erstedition im Rahmen der Kritischen Ausgabe.

Bayerische Staatsbibliothek München und Schott Music

Eine Seite aus der in der Kritischen Ausgabe erstmals edierten, von Strauss 1929 für die lyrische Sopranistin Maria Rajdl angefertigten neuen Dresdner Fassung der „Salome“, mit abgedämpftem Orchestersatz – hier: Streichung des kompletten Bläsersatzes durch Strauss und Vermerk: „Weg, nur Streicher“.

Eine Seite aus der in der Kritischen Ausgabe erstmals edierten, von Strauss 1929 für die lyrische Sopranistin Maria Rajdl angefertigten neuen Dresdner Fassung der „Salome“, mit abgedämpftem Orchestersatz – hier: Streichung des kompletten Bläsersatzes durch Strauss und Vermerk: „Weg, nur Streicher“.

Sächsische Staatstheater Dresden, Notenbibliothek

Eine Seite aus dem Strauss-Lied „Im Morgenrot“ op. 46/4 im Handexemplar von Strauss‘ Frau, der Sängerin Pauline Strauss-de Ahna. Die hier bei der Probenarbeit mit dem Komponisten eingetragenen Interpretationsvermerke werden im Notentext der Kritischen Ausgabe dokumentiert.

Eine Seite aus dem Strauss-Lied „Im Morgenrot“ op. 46/4 im Handexemplar von Strauss‘ Frau, der Sängerin Pauline Strauss-de Ahna. Die hier bei der Probenarbeit mit dem Komponisten eingetragenen Interpretationsvermerke werden im Notentext der Kritischen Ausgabe dokumentiert.

Richard-Strauss-Institut Garmisch-Partenkirchen

Kritische Ausgabe der Werke von Richard Strauss

Das Akademieprojekt „Kritische Ausgabe der Werke von Richard Strauss“ der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, das am Institut für Musikwissenschaft der LMU München durchgeführt wird, verfolgt das Ziel, sämtliche Bühnenwerke, genuinen Orchesterwerke, Lieder und Gesänge sowie kammermusikalischen Werke vorzulegen – in Ausgaben, die der Wissenschaft dienen, aber auch in die künstlerische Praxis ausstrahlen sollen. Die gesamte Ausgabe wird voraussichtlich rund 50 Bände umfassen.

Träger: Bayerische Akademie der Wissenschaften
Leitung: Prof. Dr. Hartmut Schick
Laufzeit: 2011 bis 2035
Kooperationspartner: Das Richard Strauss-Institut in Garmisch-Partenkirchen mit seinem 2009–12 durchgeführten DFG-Projekt „Richard-Strauss-Quellenverzeichnis“ (www.rsi-rsqv.de), die IT-Gruppe Geisteswissenschaften der LMU München und das Richard-Strauss-Archiv der Familie des Komponisten in Garmisch-Partenkirchen.

Interview zum Projekt mit Prof. Dr. Hartmut Schick