Alltagssprache im Wandel: die interaktive Plattform regionalsprache.de (REDE)
Keine zwei Menschen sprechen gleich. Praktisch jeder hat eine regionale Färbung in seiner Sprache. Mit dem Projekt „Regionalsprache.de (REDE)“ erfasst die Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz am Marburger Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas alle Quellen und Sprechweisen zwischen Dialekt und Hochsprache in Deutschland – und macht sie erstmals sichtbar, hörbar und vergleichbar.
Wo sind die alten Dialekte geblieben? Wie hat sich unsere Sprache mit der Zeit verändert? Und wodurch? Das untersucht das REDE-Projekt von 2008 bis 2027 am Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas in Marburg, also genau dort, wo Dialekte bereits seit dem 19. Jahrhundert systematisch und flächendeckend erforscht werden.
„Sprachwandel und Sprachvariation sind essentielle Eigenschaften jeder Sprache und jeder Varietät“, betont Prof. Dr. Jürgen Erich Schmidt, der gemeinsam mit Prof. Dr. Joachim Herrgen, Prof. Dr. Roland Kehrein, Prof. Dr. Alfred Lameli und Prof. Dr. Hanna Fischer das Projekt leitet. Er stellt fest: „Die Zahl der Dialektsprecherinnen und -sprecher nimmt kontinuierlich ab. Andere Formen regional geprägter Sprache, die wir als ‚moderne Regionalsprachen‘ bezeichnen, prägen heute den sprachlichen Alltag.“ Mit dem Akademieprojekt erheben die Forschenden erstmals die regionale Sprachvariation in Deutschland und analysieren sie umfassend. Dabei beziehen sie auch Bürgerinnen und Bürger in die Forschung ein, etwa bei Onlinebefragungen zum regionalsprachlichen Satzbau. Damit zählt das REDE-Projekt zu den umfangreichsten geisteswissenschaftlichen Forschungsvorhaben überhaupt und ist ein herausragendes Beispiel für die Einbeziehung von Bürgerforschung (Citizen Science) im Akademienprogramm.
Die im Akademieprojekt erhobenen Daten stehen auf der eigens geschaffenen interaktiven Forschungsplattform regionalsprache.de online bereit, zusammen mit allen bisherigen wissenschaftlichen Quellen und Ergebnissen der Dialektologie. „Damit ist es der Wissenschaft erstmals möglich, sprachlichen Wandel online zu dokumentieren, ihn dank der Vernetzung mit anderen Quellen in allen Details zu vergleichen und zu analysieren“, betont Schmidt, der zwei Jahrzehnte lang das Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas in Marburg geleitet hat.
Zwischen Dialekt und Hochdeutsch
Dass der sprachliche Wandel ein so bedeutendes Forschungsfeld ist, hat einen guten, oftmals nicht bekannten Grund: Um 1900 gab es unsere heutige Standardaussprache noch nicht. „Der Dialekt war die Sprache des Alltags, das Hochdeutschsprechen war grundsätzlich landschaftlich differenziert. Erst mit der 1898 geschaffenen künstlichen Bühnenaussprache entwickelte sich durch die Verbreitung im Rundfunk ab den 1930er Jahren und im Fernsehen ab den 1950er Jahren unsere heutige gemäßigte, norddeutsch geprägte Standardlautung“, erläutert Schmidt und fasst zusammen: „Die mediale Omnipräsenz der neuen Standardaussprache löste einen von Nord nach Süd voranschreitenden Umwertungsprozess aus, der bis heute andauert. Zwischen den Dialekten und dem ‚Hochdeutsch‘ haben sich neue regional begrenzte Sprechweisen herausgebildet.“ So kommt es, dass jeder eine regionale Färbung in seiner Sprache hat. Allerdings droht diese zu verschwinden, weil der primäre Spracherwerb zunehmend durch die Medien in Hochdeutsch geprägt ist. Ein Grund mehr, die Vielfalt der modernen Regionalsprachen zu beschreiben und in Schrift, Bild und Ton zu bewahren.
Pioniere der Dialektologie
Während zu den Regionalsprachen noch keine umfassenden Beschreibungen vorliegen, kann die Erforschung der Basisdialekte auf eine lange Tradition zurückblicken. Bereits vor gut 200 Jahren hat Johann Andreas Schmeller die erste große 567 Seiten starke wissenschaftliche Abhandlung zu Dialekten verfasst: Mit seinem im Jahr 1821 erschienen Werk „Die Mundarten Bayerns, grammatisch dargestellt“ hat er die wissenschaftliche Dialektologie begründet. Dann ging alles ganz schnell: Eine bis heute unschätzbare Quelle ist der „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ von Georg Wenker aus dem Jahr 1880. Dieser Atlas ist der älteste und nach Datenumfang und Ortsnetzdichte bis heute der größte Sprachatlas der Welt. Ihm liegt eine Erhebung anhand der Wenkersätze an allen 40.000 Schulorten des ehemaligen Deutschen Reichs zugrunde. Er umfasst 1.653 handgezeichnete Karten.
Sehen, hören, vergleichen
Der „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ ist vollständig digitalisiert und seit 2001 als der „Digitale Wenker-Atlas“ online. Dieser dient als technische Basis und Datengrundstock des Akademieprojektes und kann nun zusammen mit anderen vernetzten Quellen auf der Plattform regionalsprache.de über das System REDE SprachGIS eingesehen und auch angehört werden. Die derzeit 3500 Wenkersatz-Aufnahmen lassen sich in allen Dialektlandschaften durchhören. Und sie können zeigen, ob und wie sich der Dialekt zwischen der Erhebung von 1880 und späteren Tonaufnahmen verändert hat.
Bestes Hochdeutsch – tiefster Dialekt
Dank umfangreicher Befragungen an über 150 Orten in Deutschland mit unterschiedlichen Sprechergruppen bildet das Akademieprojekt die gesamte Bandbreite der modernen Regionalsprachen Deutschlands ab. Auf der Internetplattform regionalsprache.de stehen die Aufnahmen bereit, vernetzt mit externen regionalsprachlichen Datenbanken und einer Online-Bibliographie zur regionalsprachlichen Forschungsliteratur. Die Forschenden haben dafür zum Beispiel drei unterschiedliche Alters- und Bildungsgruppen befragt. Jede einzelne Sprecherin, jeder einzelne Sprecher hat mal im besten Hochdeutsch, mal im breitesten Dialekt und mal mit Freundinnen und Freunden, mal mit Fremden gesprochen. Anhand dieser Gesprächsausschnitte, die zum Beispiel die Wenkersätze, aber auch Notrufannahmegespräche beinhalten, untersuchen und vergleichen sie die linguistische Struktur und Dynamik der Regionalsprachen.
Vielfältige Nutzungsmöglichkeiten
Doch nicht nur für die sprachwissenschaftliche Grundlagenforschung, sondern auch für andere Forschungsgebiete und die Öffentlichkeit ist das REDE-Projekt interessant. Auf regionalsprache.de findet man sämtliche Erscheinungsformen der deutschen Dialekte, mal als dynamisch überblendbare Sprachkarten, mal als Tonaufnahmen von alten Ortsdialekten oder als aktuelle Materialien zum modernen Sprachgebrauch. Zugleich eröffnet das REDE-Projekt vielfältige Anwendungsmöglichkeiten, etwa in der forensischen Sprechererkennung für die Kriminalistik, im Bereich Deutsch als Fremdsprache oder im großen Feld der automatischen Spracherkennung.
Profil Prof. Dr. Jürgen Erich Schmidt, Leiter des Akademieprojektes „Regionalsprache.de“ der Akademie der Wissenschaften und Literatur | Mainz
Zum Profil siehe auch Publikation von Prof. Jürgen Erich Schmidt (2017): „Vom traditionellen Dialekt zu den modernen deutschen Regionalsprachen“. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung / Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hrsg.): Vielfalt und Einheit der deutschen Sprache. Zweiter Bericht zur Lage der deutschen Sprache. Tübingen: Stauffenburg, 105–143.)
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