Zurück zum Ursprung: das Akademieprojekt „Novum Testamentum Graecum“
Gerade zur Weihnachtszeit sind Geschichten rund um die Geburt Jesu Christi für viele Gläubige von großer Bedeutung. Aber was ist die Basis der heutigen Bibeltexte? Überlieferte Handschriften, die bis ins 2. Jahrhundert zurückreichen, lassen tief in die Geschichte des Christentums blicken.
„Was hat Jesus wirklich gesagt? Um das herauszufinden, gibt es keine andere Quelle als unsere Bibel“, betont Prof. Dr. Holger Strutwolf. Er leitet das Akademieprojekt „Novum Testamentum Graecum“ der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, das seit 2008 am Institut für neutestamentliche Textforschung (INTF) in Münster durchgeführt wird. Genau dort, wo sich das weltgrößte Mikrofilm-Archiv neutestamentlicher Handschriften befindet.
„Die griechische Erstfassung des Neuen Testaments, niedergeschrieben im 1. bis 2. Jahrhundert, ist längst verschollen. Was wir allerdings haben, sind 5.700 überlieferte Handschriften. Anhand dieser Handschriften versuchen wir, den ursprünglichen Text des Neuen Testaments zu rekonstruieren“, erklärt INTF-Direktor Strutwolf. Das Forschungsteam an der Universität Münster konzentriert sich dabei auf die Evangelien nach Matthäus, Markus und Lukas. Weitere Teile des Neuen Testaments untersuchen Partnerprojekte im In- und Ausland, die durch das Münsteraner Team koordiniert werden.
Kein Text gleicht dem anderen
Die Ursprünge des Projekts reichen in die 1950er Jahre zurück: Der Institutsgründer Kurt Aland reiste mit einem Team von Mitarbeitenden um die Welt und dokumentierte überlieferte Handschriften des Neuen Testaments auf Mikrofilmen. „Zum Glück, denn so bleibt dieses Kulturerbe für die Zukunft bewahrt“, betont Strutwolf. Zusammen mit seinem fünfköpfigen Team geht er nun 1000 ausgewählten Texten auf den Grund – eine wahrlich komplexe Aufgabe. Denn: „Über die Jahrhunderte hinweg sind zahlreiche Abschriften entstanden, die teils erhebliche Unterschiede aufweisen. Diese Unterschiede können durch Abschreibfehler, bewusste Änderungen zur besseren Verständlichkeit oder auch durch die Anpassung an die im Laufe der Zeit sich verändernde Sprachgewohnheiten entstanden sein“, erläutert Strutwolf und hebt hervor: „Wir lernen viel über Abschreibfehler, wie sie entstehen, und wie man sie erkennt und korrigiert!“
Die hohe Kunst der Textkritik
Das Herzstück des Akademieprojektes ist die Textkritik: Sie befasst sich mit der Analyse und Bewertung der verschiedenen Textvarianten, die in den überlieferten Handschriften des Neuen Testaments zu finden sind. Durch den Vergleich dieser Varianten versuchen die Forschenden, den ursprünglichen Wortlaut der Texte zu rekonstruieren. Dabei kommen sowohl traditionelle philologische Methoden als auch moderne digitale Werkzeuge zum Einsatz.
Eine eigens am INTF entwickelte Methode setzt neue Maßstäbe: die sogenannte Coherence-Based Genealogical Method (CBGM). Dabei werden die Handschriften in einer großen Datenbank digital gespeichert und systematisch auf ihre textlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin untersucht. „Unser Ziel ist, nicht nur die ursprüngliche Textfassung, sondern auch die Entwicklung der verschiedenen Textformen zu rekonstruieren. Wer schreibt von wem ab? Wo gibt es Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede? Letztlich erstellen wir einen Stammbaum der Zeugen und können uns so immer weiter dem ursprünglichen Text annähern“, fasst Strutwolf zusammen, „Dank dieser Methode gewinnen wir tiefe Einblicke in die Entstehungsgeschichte und die Überlieferung der biblischen Texte zugleich.“
Die „Editio Critica Maior“
Die Ergebnisse der Forschungsarbeit fließen in der „Editio Critica Maior“, der umfassendsten textkritischen wissenschaftlichen Ausgabe des griechischen Neuen Testaments, zusammen. Sie dokumentiert die griechische Textgeschichte des ersten Jahrtausends anhand der überlieferungsgeschichtlich wichtigen griechischen Handschriften, alten Übersetzungen und neutestamentlichen Zitate in der antiken christlichen Literatur. Bis zum Projektende im Jahr 2030 soll die ECM der synoptischen Evangelien komplett vorliegen.
Kollaborative Forschungsumgebung
Derweil lassen sich im virtuellen Handschriftenlesesaal des INTF (New Testament Virtual Manuscript Room) die Handschriften und die textlichen Unterschiede zwischen den Handschriften einsehen. Aber nicht nur das. „Unsere Forschungsplattform bietet Forschenden in aller Welt die Möglichkeit, auf einzigartige Ressourcen zuzugreifen und ihre Erkenntnisse zu teilen“, so Strutwolf. „Zudem sorgt die ebenso internationale wie interdisziplinäre Zusammenarbeit für neue Erkenntnisse und Perspektiven.“
Die Bibelforschung wird also zugänglicher, präziser und kollaborativer. Dank des Akademieprojektes entsteht eine verlässliche Grundlage für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den biblischen Texten. Auf Basis der kritischen Edition können verschiedenste Disziplinen fundierte Aussagen über die Entstehung und Überlieferung des Neuen Testaments treffen. Zudem ermöglicht das Projekt einen tieferen Einblick in die kulturellen und sozialen Kontexte der frühen Christenheit.
Von Handschriften zur 3D VR-Brille
Die Arbeit des INTF trägt aber nicht nur wesentlich zur Weiterentwicklung der neutestamentlichen Wissenschaft bei. Auch die breite Öffentlichkeit kann die Arbeit des Akademieprojektes in Augenschein nehmen – im Bibelmuseum der Universität Münster, das dem INTF angeschlossen ist. Über 1500 Exponate illustrieren, wie sich die Bibel im Laufe der Zeit entwickelt hat, von ihren handschriftlichen Anfängen bis heute. Ein Besuch wert – gerade zur Weihnachtszeit.
Autorin: Katrin Schlotter
Das Akademieprojekt „Novum Testamentum Graecum
Das Akademieprojekt „Novum Testamentum Graecum - Editio critica maior“ der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, das seit 2008 am Institut für neutestamentliche Textforschung (INTF) in Münster durchgeführt wird, widmet sich der kritischen Edition des griechischen Neuen Testaments. Es ermöglicht Einblicke in die frühesten Texte des Christentums, in die Geschichte der Überlieferung und schafft die Grundlage für neue Erkenntnisse. Direktor der Arbeitsstelle der Universität Münster ist Prof. Dr. Holger Strutwolf. Die in Münster rekonstruierte Ausgaben (Nestle-Aland, GNT, ECM) des griechischen Neuen Testaments werden heute weltweit von allen großen Kirchen und wissenschaftlichen Ausbildungsstätten genutzt. Darüber hinaus bilden sie die Grundlage für die moderne Bibelübersetzung.
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