Afghanistan-Forschung: Interview mit BICC-Direktor Professor Conrad Schetter
In Afghanistan haben die Taliban die Macht übernommen, nach dem internationalen Truppenabzug herrscht große Unsicherheit im Land. Welchen Beitrag kann die Afghanistan-Forschung leisten, um die Lage in Afghanistan besser zu verstehen? Wir sprachen mit Konfliktforscher und Afghanistan-Experten Professor Conrad Schetter. Er ist seit 2013 Direktor des Friedens- und Konfliktforschungsinstituts BICC.
Hinterlassen Sie uns unter diesem Artikel Ihr Feedback gerne in einem Kommentar.
Herr Prof. Schetter, seit fast 30 Jahren beschäftigen Sie sich mit Afghanistan. Welchen Beitrag kann die Afghanistan-Forschung leisten?
In Afghanistan herrscht seit über 40 Jahren Krieg. Der Krieg veränderte die Gesellschaft enorm. Unsere Forschung zielt darauf ab, die unterschiedlichen Weltsichten und Alltagspraktiken von Afghaninnen und Afghanen besser zu verstehen. Dabei kommen wir immer wieder zu Ergebnissen, die unseren westlichen, von Staatlichkeit geprägten Vorstellungen nicht entsprechen. Wir versuchen diese Logiken, die sich einem bipolaren Denken entziehen, Politik und Praxis nahe zu bringen.
Können Sie hierfür ein Beispiel nennen?
Unsere Forschung machte etwa deutlich, dass eine Verkürzung des Konflikts auf afghanische Regierung versus Taliban zu kurz greift. So gibt es zahlreiche islamistische Strömungen, die in unterschiedlicher Nähe und Distanz zu den Taliban stehen. Wir untersuchten etwa das Aufkommen des Islamischen Staats Khorassan (IS-K) in Afghanistan seit 2015. Der IS-K zeichnete sich für das jüngste verheerende Attentat auf dem Kabuler Flughafen verantwortlich. Über intensive Feldforschung fanden wir heraus, dass der IS-K weniger in transnationale Netzwerke als in lokale Kontexte eingebunden ist. Entscheidend – gerade in Abgrenzung zu den Taliban – war, welche Madrassa (Religionsschule) im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet besucht wurde.
Welche weiteren Forschungsthemen zu Afghanistan bearbeiten Sie am BICC?
BICC erforscht seit Jahren den Alltag marginalisierter Gruppen in Afghanistan, die von Entwicklung weitgehend abgekoppelt sind. So „folgen“ wir Geflüchteten, um deren Motivationen und Entscheidungen besser zu verstehen. Wir erforschen aber auch den Alltag „immobilisierter Gruppen“, die gar nicht erst die Möglichkeit haben zu fliehen. Hierüber gewinnen wir tiefe Einblicke in die afghanische Gesellschaft. Dies ist etwa wichtig, um zu verstehen, wie gesellschaftliche Integration in Afghanistan überhaupt gelingen kann und an welcher Stelle Friedensprozesse ansetzen sollten.
Wie wirkt sich die aktuelle Situation auf Ihre Forschungen in und mit Afghanistan aus?
Wir hatten nach der internationalen Intervention in Afghanistan 2001 für kurze Zeit ein Fenster, in der Feldforschung in Afghanistan, auch in ländlichen Regionen, möglich war. Bereits ab 2006 schloss sich dieses Fenster aufgrund der Sicherheitslage wieder. Seitdem war Forschung nur noch unter großen Einschränkungen möglich. Es besteht nun die Gefahr, dass unter den Taliban Forschung überhaupt nicht mehr durchführbar ist.
Welche Themen sollten zukünftig stärker in die Politikberatung einfließen?
Es geht weniger um die Themen als um die grundlegende Struktur. Meine Hoffnung ist, dass das Afghanistan-Desaster zu einer grundlegenden Veränderung des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Politik führt. Die Wissenschaft adressierte seit Langem, empirisch fundiert, was in der Intervention in Afghanistan alles eklatant falsch gelaufen ist. Es ist notwendig, dass die Politik ein echtes Interesse an Wissensgenerierung und an einem Austausch mit der Wissenschaft entwickelt.
Das BICC - Internationales Konversionszentrum Bonn - Bonn International Center for Conversion
Als unabhängige, gemeinnützige Organisation befasst sich das BICC (Internationales Konversionszentrum Bonn - Bonn International Center for Conversion) mit Friedens- und Konfliktforschung. Der Fokus liegt dabei auf Aufrüstung und Rüstungskontrolle, Dynamik von Gewaltkonflikten sowie auf Ordnung und Wandel. Weitere Informationen unter: https://www.bicc.de/
Projekt "Flucht – Forschung und Transfer
Im vom BMBF geförderten Projekt "Flucht – Forschung und Transfer. Flüchtlingsforschung in Deutschland" werden Erkenntnisse der Flüchtlingsforschung zusammengetragen und in einer Forschungslandkarte sichtbar gemacht. Zudem werden Ergebnisse zu politisch relevanten Fragen, etwa nach Fluchtursachen oder Herausforderungen der Integration, zusammengeführt und für den Wissenstransfer in Politik, Verwaltung, Medien und Gesellschaft aufbereitet. Das mit 700.000 Euro geförderte Projekt ist im Sommer 2016 gestartet und wird vom Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück und dem Internationalen Konversionszentrum Bonn (BICC) Bonn umgesetzt. BMBF-Pressemitteilung „Mehr Forschung zu Flucht, Migration und Integration“
Um diese Website bestmöglich an Ihrem Bedarf auszurichten, nutzen wir Cookies und den Webanalysedienst Matomo, der uns zeigt, welche Seiten besonders oft besucht werden. Ihr Besuch wird von der Webanalyse derzeit nicht erfasst. Sie können uns aber helfen, indem Sie hier entscheiden, dass Ihr Besuch auf unseren Seiten anonymisiert mitgezählt werden darf. Die Webanalyse verbessert unsere Möglichkeiten, unseren Internetauftritt im Sinne unserer Nutzerinnen und Nutzer weiter zu optimieren. Es werden keine Daten an Dritte weitergegeben. Weitere Informationen hierzu finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.