Friedens- und Konfliktforschung: Im Interview Prof. Dr. Christopher Daase

Die Hintergründe und Folgen des Ukraine-Kriegs analysieren – welchen Beitrag leisten die Geistes- und Sozialwissenschaften?

Prof. Dr. Christopher Daase ist stellvertretendes geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) und leitet die Programmbereiche Internationale Sicherheit und Transnationale Politik. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sicherheitspolitik, internationale Institutionen und politische Gewalt.

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist das öffentliche Interesse an der Friedens- und Konfliktforschung enorm. Welche Fragen werden derzeit an Sie bzw. Ihr Institut herangetragen, Herr Prof. Daase?

Prof. Dr. Christopher Daase

Prof. Dr. Christopher Daase, Stellvertretendes geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK)

HSFK

Es gibt ein riesiges Informationsbedürfnis in der Bevölkerung, aber auch bei politischen EntscheidungsträgerInnen. Der russische Angriffskrieg hat viele überrascht, obwohl sich die Lage über Jahre zugespitzt hat. Besonders häufig werden wir gefragt, wie der Krieg beendet werden kann und was der Westen, was speziell Deutschland, tun kann. Wir verweisen dann auf die Möglichkeiten der Deeskalation und die vielfältigen Wege, auf denen der Westen die Ukraine politisch, militärisch, ökonomisch und humanitär unterstützen kann. Eine große Sorge ist, dass der Krieg auf Westeuropa und NATO-Gebiet übergreifen und es zu einer nuklearen Eskalation kommen könnte. Hier ist unsere Aufgabe, einerseits zu beruhigen und deutlich zu machen, dass ein Nuklearkrieg nicht bevorsteht, aber auch vor einer direkten Kriegsbeteiligung zu warnen, die eine solche Eskalation nach sich ziehen könnte (siehe auch PRIF-Blog-Beitrag Szenarien eines Kriegseintritts des Westens).

Welchen Beitrag kann die Friedens- und Konfliktforschung leisten, um dem Bedürfnis der Öffentlichkeit nach wissenschaftlicher Einordung des Krieges gegen die Ukraine und dessen Folgen gerecht zu werden?

In der gegenwärtigen Situation hat die Friedens- und Konfliktforschung vor allem zwei Aufgaben: Sie muss zum einen die aktuelle Entwicklung beobachten und aufgrund ihrer wissenschaftlichen Expertise reflektieren und kommentieren, d.h. politische, rechtliche und normative Einordnungen und Bewertungen vornehmen und Handlungsoptionen aufweisen. Sie muss zum anderen aber auch, und vor allem, über die aktuellen Ereignisse hinaus die grundsätzlichen Probleme aufarbeiten und Konzepte entwickeln, wie Frieden und Sicherheit wieder hergestellt und langfristig garantiert werden können. Auch wenn es in der Erregung des Augenblicks illusorisch erscheinen mag, ist jetzt der Zeitpunkt, sich über die Schritte zu einer neuen Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa Gedanken zu machen. Auch wenn gegenüber Russland jetzt eine harte Haltung notwendig ist, bleibt der Satz richtig: Wenn Du Frieden willst, muss Du den Frieden auch vorbereiten.

Welche Forschungsfrage ist jetzt wichtiger denn je?

Es drängen sich jetzt eine ganze Reihe von Forschungsfragen auf, die die kurz-, mittel- und langfristige Überwindung dieses Konflikts betreffen. Kurzfristig ist die Frage, wie aus einer militärischen Pattsituation zu Verhandlungen über einen Waffenstillstand, eine Truppenentflechtung und einer Friedensvereinbarung übergangen werden kann. Mittelfristig stellt sich die Frage, wie sich die Sicherheitspolitik in Deutschland und Europa so aufstellen kann, dass der neuen Bedrohungslage im Osten Rechnung getragen wird, ohne das Engagement für internationale Stabilisierungseinsätze zu vernachlässigen und dabei militärische und zivile Komponenten effektiver als bisher integriert werden können. Langfristig ist eine zentrale Herausforderung, neue Verhandlungsforen und institutionelle Arrangements zu entwerfen, um zunächst eine stabile Abschreckung und, darauf aufbauend, eine kooperative Friedens- und Sicherheitsstruktur aushandeln zu können.

Vielen Dank für Ihre Einschätzung, Herr Prof. Daase!

(Das Interview erfolgte schriftlich am 1. April 2022)



 

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