Die Hintergründe und Folgen des Ukraine-Kriegs analysieren – welchen Beitrag leisten die Geistes- und Sozialwissenschaften?
Am 24. Februar 2022 ließ die russische Invasion der Ukraine die Weltgemeinschaft fassungslos zurück. Über Ziele und Motive des russischen Präsidenten und der russischen Staatsführung wird seitdem ebenso diskutiert wie über die Folgen für die Ukraine, aber auch für Russland und seine Bevölkerung.
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Welche Auswirkungen wird der Krieg für Europa und die Welt haben, der eine tiefe geschichtliche Zäsur darstellt? Und welche Antworten darauf entwickeln die Geistes- und Sozialwissenschaften? Wir fragen nach – und veröffentlichen Statements von renommierten Forschenden.
In der Weltgemeinschaft gibt es bis auf einige wenige Staaten Einigkeit, diesen Krieg zu verurteilen. Die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Bettina Stark-Watzinger hat diese Haltung mit den Worten ausgedrückt, dass die russische Invasion am 24. Februar 2022 „ein Angriff auf uns alle“ gewesen sei. Gegen Russland wurden wegen der Angriffe Sanktionen beschlossen, die Zusammenarbeit auf allen Ebenen eingefroren, auch im Bereich Bildung und Forschung.
Die weitere Entwicklung des Krieges ist noch nicht absehbar. Unterschiedliche Szenarien sind denkbar. Und dennoch muss der Versuch unternommen werden, sich mit der Zukunft zu beschäftigen, aber auch die Ursachen für das Handeln der russischen Staatsführung zu ergründen.
In dieser Situation ist es entscheidend, historisches, kulturelles, sprachliches und politisches Wissen zu sammeln, neue Gedankenansätze zu formulieren und weiterzugeben. Hier sind die Geistes- und Sozialwissenschaften gefragt. Insbesondere die Erforschung der gesamten Region Ost- und Ostmitteleuropa steht jetzt im Fokus; aber auch die geopolitischen und gesellschaftlichen Folgen, die sich weltweit aus diesem Konflikt ergeben, werden die Forschung beschäftigen. Dabei ist insbesondere die Friedens- und Konfliktforschung gefragt. Aber auch die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die sich mit Fragen von Flucht, Migration und gesellschaftlichem Zusammenhalt beschäftigen, leisten wertvolle Forschungsbeiträge.
Gebündelte Forschungspower
Ob in großen Forschungsverbünden und in -instituten oder in den Kleinen Fächern wie die Osteuropastudien, Osteuropäische Geschichte oder Ukrainische Kulturwissenschaft: Forschende arbeiten daran, Ereignisse und Entwicklungen aus unterschiedlichen Perspektiven wahrzunehmen, faktenbasiert einzuordnen und so zu einem besseren Verständnis beizutragen. Welchen konkreten Beitrag die Forschungen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften dazu leisten, erläutern namhafte Expertinnen und Experten in kurzen Statements.
Expertinnen und Expertinnen zum Krieg in der Ukraine
„Der Krieg hat die übermäßige Vergangenheitsbezogenheit Russlands und die Zukunftsorientiertheit der Ukraine drastischer aufgezeigt, als jedes Forschungsprogramm dies tun könnte.“
privat
Professorin Dr. Maren Röger ist Direktorin des Leibniz-Instituts für Geschichte und Kultur des östlichen Europas
B. Bölkow (GWZO)
Junior-Professor Dr. Roman Dubasevych ist Lehrstuhlinhaber für Ukrainische Kulturwissenschaft an der Universität Greifswald und leitet das BMBF-Verbundprojekt UNDIPUS
Die ukrainische Kulturwissenschaft kann die deutsche Öffentlichkeit zunächst über die allgemeinen Hintergründe des Konflikts aufklären, vor allem über seine Komplexität, was in Zeiten der Eskalation besonders wichtig ist. Damit versucht sie, der von Umberto Eco bereits im Kontext des ersten Irak-Krieges geforderten intellektuellen Funktion gerecht zu werden. Im Gegensatz zum politischen und militärischen Handeln besteht sie im Aufzeigen von Widersprüchen und Ambivalenzen, in der Aufrechterhaltung des kritischen Differenzierungsvermögens in Zeiten der Polarisierung und diskursiver Radikalisierung.
Presseabteilung Universität Greifswald
Prof. Dr. Gwendolyn Sasse ist seit Oktober 2016 die Wissenschaftliche Direktorin des ZOiS. Seit April 2021 ist sie Einstein-Professorin für Vergleichende Demokratie- und Autoritarismusforschung am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.
Die gesamte Region [das östliche Europa] ist für die Friedens- und Konfliktforschung von großer Bedeutung: Nirgendwo sonst gab es seit dem Ende des Kalten Krieges so viele, teils bis heute ungelöste Sezessionskonflikte und neue Staatsgründungen. Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine stellt uns vor die Herausforderung, Osteuropa-, Konflikt-, und Fluchtforschung noch gezielter zu verknüpfen und zu kommunizieren.
In der gegenwärtigen Situation hat die Friedens- und Konfliktforschung vor allem zwei Aufgaben: Sie muss zum einen die aktuelle Entwicklung beobachten und aufgrund ihrer wissenschaftlichen Expertise reflektieren und kommentieren, d.h. politische, rechtliche und normative Einordnungen und Bewertungen vornehmen und Handlungsoptionen aufweisen. Sie muss zum anderen aber auch, und vor allem, über die aktuellen Ereignisse hinaus die grundsätzlichen Probleme aufarbeiten und Konzepte entwickeln, wie Frieden und Sicherheit wieder hergestellt und langfristig garantiert werden können. Auch wenn es in der Erregung des Augenblicks illusorisch erscheinen mag, ist jetzt der Zeitpunkt, sich über die Schritte zu einer neuen Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa Gedanken zu machen. Auch wenn gegenüber Russland jetzt eine harte Haltung notwendig ist, bleibt der Satz richtig: Wenn Du Frieden willst, muss Du den Frieden auch vorbereiten.
HSFK
Prof. Dr. Peter Haslinger, Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung Marburg / Justus-Liebig-Universität Gießen
Auch an die Geisteswissenschaften, die in den letzten drei Jahrzehnten ebenfalls von einer Frie-densdividende profitiert haben, ergeben sich Fragen: Wie gehen wir mit dem Bedarf nach „harten“ Erklärungsansätzen um? Wie vermeiden wir ein mögliches Absolutsetzen des neuen Ost-West-Gegensatzes? Blüht uns die Rückkehr zur Gegnerforschung des Kalten Krieges? Stehen wir erneut vor einer „Ersatzforschung“, die in der Europäischen Union das zu kompensieren versucht, was in Ländern wie Russland oder Belarus selbst nicht mehr durchführbar wird? Letztere Frage stellt sich auch deswegen, da eine geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung zu Russland und Belarus auf Jahre extrem erschwert werden, weil Archiv- und Feldstudien nicht mehr planbar sind und zu-nehmend mit erheblichen persönlichen Risiken verbunden sein werden.
Die Forschung in den Geistes- und Sozialwissenschaften steht seit dem Beginn des Krieges vor allem mit Bezug auf den post-sowjetischen Raum vor Herausforderungen, wie sie es seit dem Kalten Krieg nicht mehr kannte: Wie können der Leitgedanke „Forschen über und mit der Region“ noch umgesetzt und das stark nachgefragte Wissen generiert werden, wenn Forschungsaufenthalte in Ländern wie Belarus, Russland und die Ukraine auf unbekannte Zeit nicht mehr möglich sind, wissenschaftliche Netzwerke nicht mehr funktionieren, Wissenschaftler*innen aus der Ukraine vor dem Krieg fliehen und Forscher*innen andere Länder aufgrund der immer stärkeren Repressionen Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit erfahren?
„Die Fluchtforschung weist Gesellschaft und Politik auf vernachlässigte oder vulnerable Gruppen, Engpässe, Unterstützungsbedarfe und gute Beispiele sowie Defizite bei der Umsetzung von Politik hin.“
„Mit ihrer wissenschaftlichen Expertise kann die Osteuropäische Geschichte inhaltlich vor allem zu drei Aspekten Orientierung bieten: Sie kann erstens die Geschichte der Ukraine als eigenständiger Nation im europäischen Kontext verständlich machen und deren historische Wurzeln aufzeigen. Die Osteuropäische Geschichte kann zweitens erklären, wie sich das Verhältnis zwischen der russischen und der ukrainischen Gesellschaft über das 20. Jahrhundert hinweg verändert hat, wie eng sie miteinander verflochten und wie fremd sie einander in den letzten Jahren geworden sind. Schließlich kann sie, drittens, aufzeigen, welche wissenschaftlichen Kontroversen um zentrale Motive der russischen Kriegsbegründung geführt werden, etwa zum behaupteten Stellenwert rechtsradikaler Gruppierungen in der Ukraine oder zum Verhältnis zwischen NATO und Russland“.
So bündelt das Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung IOS Regensburg geschichts- und wirtschaftswissenschaftliche Expertise zu interdisziplinären Forschungsschwerpunkten, wobei Südosteuropa und das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion im Fokus stehen. In zwei Arbeitsgruppen forschen renommierte ukrainische Gastwissenschaftlerinnen und –wissenschaftler u.a zur ukrainischen Staatlichkeit seit dem Ersten Weltkrieg sowie zu Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen auf dem Gebiet der Ukraine seit 2014.
Das Imre Kertész Kolleg Jena, ein Käte Hamburger Kolleg, legt seinen thematischen Schwerpunkt auf Geschichte, Kultur und Gesellschaften Osteuropas im 20. Jahrhundert. Das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) fokussiert sich auf die gesellschaftsrelevante sozialwissenschaftliche Forschung zu Osteuropa und vermittelt die Ergebnisse an Politik, Medien und die breite Öffentlichkeit. Einen großen Beitrag zur faktengerechten Einordnung leistet auch das Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) ein interdisziplinäres, international ausgerichtetes Institut der Ost- und Ostmitteleuropaforschung mit Sitz in Leipzig.
Auch das 1950 gegründete Herder‐Institut ist ein international renommiertes Zentrum der Ostmitteleuropaforschung, das mit seinen Arbeitsbereichen Forschung, Wissensvermittlung, Dokumentation und Digitalität eine große Bandbreite wissenschaftlicher Aktivitäten zur historischen und kulturellen Entwicklung Ostmitteleuropas abdeckt.
Ein weiteres Beispiel für gebündelte Forschung ist das Interdisziplinäre Forschungszentrum Ostseeraum (IFZO): Es befasst sich kooperationsbasierten und konfliktbasierten Zukunftsprojektionen in den Gesellschaften des Ostseeraums und konzentriert sich dabei auf die Beantwortung zentraler Fragen und Herausforderungen der Gegenwart, wie zum Beispiel mit dem Energie-Trilemma im Ostseeraum. Zur Beantwortung dieser Fragen tragen der Lehrstuhl für Ukrainistik ebenso bei wie die Slawistik und die anderen Philologien des Ostseeraums sowie wie Lehrstühle für nordische und osteuropäische Geschichte. Dieses Wissen fließt in die interdisziplinären Forschungen über Energieversorgung, Sicherheitsarchitektur, kulturelles Erbe und Nationalismen ein.
Wissenstransfer in Krisenzeiten
Ergänzend zu den Statements der Expertinnen und Experten geben auch Livestreams und Mitschnitte von Veranstaltungen profunde Einblicke in die Forschung. Bitte tragen Sie weitere Veranstaltungen zum Thema in den Veranstaltungskalender ein.
Livestream zum IFZO Roundtable: International responses to Putin’s aggression: How effective are military deterrence, economic sanctions, and diplomacy? Am 09.03.2022, 12:15 Uhr - 09.03.2022, 13:45 Uhr
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