Interview mit Professor Rachid Ouaissa
Professor Rachid Ouaissa von der Philipps- Universität Marburg erforscht die Auswirkungen der Corona-Pandemie in Tunesien und im Maghreb am neuen Merian-Zentrum in Tunis.
Professor Rachid Ouaissa von der Philipps- Universität Marburg erforscht die Auswirkungen der Corona-Pandemie in Tunesien und im Maghreb am neuen Merian-Zentrum in Tunis.
Unsere Forschung am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien (CNMS) der Philipps-Universität Marburg beschäftigt sich mit den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Disparitäten in Tunesien und im Maghreb. Wir beobachten dabei beispielsweise geografische, kulturelle oder genderbezogene Einflussfaktoren auf Ungleichheiten in der Gesellschaft und ihre Entwicklung. Schon jetzt zeigt sich, dass die Pandemie die Rekonfigurationen der politischen, sozialen und ökonomischen Strukturen in Tunesien und im Maghreb beschleunigt, die mit dem sogenannten Arabischen Frühling 2010/2011 begonnen haben. Insbesondere im wirtschaftlichen Bereich stehen dem Maghreb harte Zeiten bevor. Der fast vollständige Stillstand der Wirtschaft in den Ländern und vor allem des Handels mit Europa, dem wichtigsten Wirtschaftspartner der Region, wird massive soziale Folgen haben. Zahlreiche Familien drohen, in die Armut abzugleiten, soziale Ungleichheiten werden zunehmen, und damit auch gesellschaftliche Spannungen und Konflikte. Die Frage, wie die Regierungen der Länder die Krise bewältigen, wird über ihre Akzeptanz und auch über die Legitimität und Zukunft der bestehenden politischen Systeme entscheiden. Mit unserem Forschungsthema Disparitäten sind wir damit auch angesichts der Corona-Pandemie am Puls der Zeit.
Wir werden die geplanten Formate des Zentrums – wie Konferenzen und Workshops, aber auch öffentliche Diskussionsrunden und kulturelle Veranstaltungen – nutzen, um Raum für einen intensiven Austausch über die Folgen der Pandemie für die künftige Entwicklung der Gesellschaften zu schaffen. MECAM soll ein Ort für Dialog und Begegnung sein, zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ganz unterschiedlicher Disziplinen und nationaler Herkunft, aber auch zwischen der Forschungswelt und der breiteren Öffentlichkeit. Es ist wichtig, die medizinische Forschung hier um gesellschaftswissenschaftliche Debatten und Analysen zu ergänzen. Und gerade angesichts einer zunehmenden Verbreitung von Verschwörungstheorien müssen wir daran arbeiten, Wissenskanäle zu multiplizieren. Dazu dient unser Zentrum.
Mit den bereits genannten Transformationen durch Covid-19 stellt sich die Frage der Gestaltung und Verhandlung von Zukunftsmodellen für die maghrebinischen Gesellschaften sehr akut. Mit Zukunftsvorstellungen gehen Hoffnungen einher, die Gegenwart macht Angst. Konzepte wie Solidarität, Gleichheit und Partizipation müssen in einer durch die Pandemie veränderten Zukunft neu definiert und verhandelt werden. Bestehende, neue und verschärfte Disparitäten, Marginalisierungen und Konflikte in der Gesellschaft spielen in diesen Verhandlungsprozessen eine wichtige Rolle. Zugleich bringt die Krise neue Formen der kollektiven Aktion und Solidarität hervor. Die Verhandlungen um tragfähige Zukunftsmodelle für die maghrebinischen Gesellschaften sind durch die Corona-Pandemie noch komplexer geworden.
Prof. Rachid Ouaissa ist Professor für Politikwissenschaft und Leiter des Fachgebiets Politik des Nahen und Mittleren Ostens am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien (CNMS) an der Philipps-Universität Marburg. Seit Mai 2020 leitet er als einer der beiden Direktoren das neue Merian Centre for Advanced Studies in the Maghreb (MECAM) in Tunis.
Das Merian Centre for Advanced Studies in the Maghreb (MECAM) am Standort Tunis wurde 2020 gegründet und versteht sich als interdisziplinäre, interregionale und intergenerationelle Forschungsplattform zum Maghreb und zum Nahen und Mittleren Osten. Unter dem Leitthema „Imagining Futures – Dealing with Disparity“ untersucht MECAM rund eine Dekade nach dem „Arabischen Frühling“ die komplexen Prozesse einer (Re-)Verhandlung gesellschaftlicher Zukunftsmodelle (‚imagining futures‘) in der Region im Kontext unterschiedlicher Formen von Disparität und ungleichen Ausgangsbedingungen (‚disparity‘).