Special „Digitale Innovationen in den Geistes- und Sozialwissenschaften“
Artikel teilen
Online-Ausstellung: Die kontaminierte Bibliothek
Einst verhasst und nun erforscht: Mikroben in alten Büchern und kostbaren Sammlungen. Welche Rolle Mikroorganismen bei der Erforschung unseres Kulturguts leisten, hat das BMBF-Verbundprojekt „MIKROBIB“ – Kontamination und Lesbarkeit der Welt: Mikroben in Sammlungen zur Sprache bringen“ interdisziplinär erforscht. In einer Online-Ausstellung sind die erstaunlichen Ergebnisse zu sehen.
Im Interview Prof. Dr. Nicole C. Karafyllis, TU Braunschweig; Prof. Dr. Ulrich Johannes Schneider und Dr. Christoph Mackert, Universität Leipzig; Prof. Dr. Jörg Overmann, Leibniz-Institut Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen (DSMZ), Braunschweig.
Mit Ihrem Verbundprojekt haben Sie die „Sprache der Mikroben“ in Sammlungen aus philosophischer, kulturwissenschaftlicher und mikrobiologischer Perspektive analysiert – welche Geheimnisse haben Sie den Mikroben entlockt?
Nicole C. Karafyllis: Wir arbeiteten mit einer bewussten Provokation: die Mikrobe nicht als Feind zu sehen, der das Kulturgut in Sammlungen zerstört, sondern als Ressource neuen Wissens. Inspiriert waren wir von Pathologen, die aus dem Vorkommen bestimmter Insektenarten an einem alten Leichnam einiges über den Tod, aber auch das Leben sagen können. Nur haben wir mittelalterliche Sammelbände statt Leichen untersucht. Wir wollten wissen, in welchen Klöstern sie zuvor waren, ob sie z.B. Brände mitgemacht haben und wer sie wie genutzt hat. Dieser Perspektivenwechsel, in dem die Mikrobe zu einem buchbiographischen Zeichen wird, bedeutet eine neue Lesbarkeit der Welt und ein anderes Verständnis von Kulturgut. Wissensordnungen und Dinge müssen dafür neu gedacht werden. So wird das Buch zum Habitat für Mikroorganismen, und die Bibliothek wird zu einer Mikrobenbank, ähnlich wie die Sammlung, die Prof. Overmann leitet.
Jörg Overmann: Zunächst mussten wir eine Methodik für diese Objekte des Kulturerbes entwickeln, mit der sich zuverlässig Bakterienzellen aufsammeln lassen, ohne die mittelalterlichen Pergamente zu beschädigen. Pergamente sind oft ein extremer Lebensraum für Bakterien, in dem ein erhöhter Salzgehalt, alkalischer pH-Wert und Trockenheit vorherrschen. Erwartungsgemäß wurden Bakterien aus der Bacillus-Gruppe nachgewiesen, die dagegen unempfindlich sind. Einige der isolierten Arten waren jedoch unbekannt. Dies zeigt, dass der Lebensraum Buch eine bisher unbekannte Biodiversität beherbergt. Unerwartet war, dass wir auch Bakterien der Gattung Staphylococcus nachweisen konnten, die auf dem Menschen vorkommt. Wir haben hier möglicherweise Bakterien von den früheren Nutzern der Bücher gewinnen können.
Ulrich J. Schneider und Christoph Mackert: Das ergab für uns von der Universitätsbibliothek Leipzig ganz neue Einblicke. Wir haben die Kulturobjekte als belebte Objekte anzusehen gelernt, was den Blick auf die Materialität der gesamten Überlieferung in den Magazinen erweiterte. Die buchkundlichen Fragen nach Entstehungsumständen und Wanderungen von Handschriften sind für uns dauerhaft ergänzt um die Frage: Was sagen mikrobielle Befunde über die kulturellen Situationen der Produktion und Aufbewahrung(en)? Denn jedes Buch trägt von Anfang an Mikroben, und diese sind Informationsträger. Wir sind damit auch eine Sammlung von historischen Mikroben.
Wie haben Sie die Herausforderung gemeistert, die Forschungsergebnisse in einer Online-Ausstellung sichtbar zu machen?
Ulrich J. Schneider: Auch bei einer Online-Ausstellung geben die Bilder den Ton an, sind leitend für den Parcours, den man anlegt. Zugleich wird dieser wie im Katalog in Kapitel und Unterkapitel gegliedert. Hierzu haben alle im Verbund beigetragen. Von großem Vorteil ist im Online-Format die Möglichkeit, in die Bilder zu zoomen; außerdem bieten wir drei Videos an. Ohne die Unterstützung einer wissenschaftlichen Hilfskraft wäre das nicht zu realisieren gewesen, auch wenn das Format der Deutschen Digitalen Bibliothek (ddb-studio) einen guten Rahmen vorgibt.
Worauf ist beim Format einer Online-Ausstellung zu achten? Und welche Empfehlung geben Sie anderen Projekten?
Während man im Ausstellungsraum die Objekte für das freie Herumspazieren der Besucherinnen und Besucher komponiert, ähnelt das Betrachten einer digitalen Ausstellung eher dem Herumblättern in einem Buch. Es wird eine Reihenfolge vorgegeben, man kann aber auch vor- und seitwärts springen. Das muss sorgfältig geplant werden, damit die Schau abwechslungsreich wird, aber nicht in Einzelseiten auseinanderfällt. Eine Ausstellung ist in jedem Fall eine eigene Präsentationsform; man sollte nicht versuchen, den gedruckten Katalog zu imitieren.
Das Projekt „Kontamination und Lesbarkeit der Welt: Mikroben in Sammlungen zur Sprache bringen (MIKROBIB)“
BMBF-Förderrichtlinie „Die Sprache der Objekte – Materielle Kultur im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen“ Projektzeitraum: 09/2018–08/2021
Informationen zu den Personen
Prof. Dr. Nicole C. Karafyllis, Institut für Philosophie an der TU Braunschweig, Projektleiterin und Koordinatorin des BMBF-Forschungsverbund "Kontamination und Lesbarkeit der Welt: Mikroben in Sammlungen zur Sprache bringen" MIKROBIB (2018-2021)
Prof. Dr. Ulrich Johannes Schneider, Direktor der Universitätsbibliothek Leipzig und Professor für Philosophie am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig
Dr. Christoph Mackert, Leiter des Handschriftenzentrums an der Universitätsbibliothek Leipzig
Um diese Website bestmöglich an Ihrem Bedarf auszurichten, nutzen wir Cookies und den Webanalysedienst Matomo, der uns zeigt, welche Seiten besonders oft besucht werden. Ihr Besuch wird von der Webanalyse derzeit nicht erfasst. Sie können uns aber helfen, indem Sie hier entscheiden, dass Ihr Besuch auf unseren Seiten anonymisiert mitgezählt werden darf. Die Webanalyse verbessert unsere Möglichkeiten, unseren Internetauftritt im Sinne unserer Nutzerinnen und Nutzer weiter zu optimieren. Es werden keine Daten an Dritte weitergegeben. Weitere Informationen hierzu finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.