Ostmitteleuropafoschung: Im Interview Prof. Dr. Peter Haslinger

Die Hintergründe und Folgen des Ukraine-Kriegs analysieren – welchen Beitrag leisten die Geistes- und Sozialwissenschaften?

Prof. Dr. Peter Haslinger, Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung Marburg / Justus-Liebig-Universität Gießen

Viele ukrainische Kolleginnen und Kollegen von Ihnen sind derzeit in großer Not. Wie helfen Sie an Ihrem Institut?

Prof. Dr. Peter Haslinger

Prof. Dr. Peter Haslinger

Wolfgang Schekanski

Wie viele Universitäten, Stiftungen und andere außeruniversitäre Einrichtungen hat auch das Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung umgehend einen Unterstützungsfond eingerichtet, mit dem wir gezielt Hilfe leisten können. Wichtig ist uns dabei auch, die Kolleginnen und Kollegen, die dies möchten, in Forschungsaktivitäten einzubinden. Auch die Leibniz-Gemeinschaft hat eigene Zusatzmittel bereitgestellt, um die Aktivitäten ihre Mitgliedseinrichtungen zu unterstützen. Inzwischen ist es gar nicht mehr so einfach, angesichts der großen Solidaritätsbereitschaft den Überblick zu bewahren, diese Fülle an Angeboten finde ich aber angesichts der flüchtenden Kolleginnen und Kollegen und ihrer existenziellen Situation wichtig und richtig.

Noch sind wir in einer Phase der akuten Hilfe. Aber müssen wir trotz des ungewissen Ausgangs des Kriegs nicht jetzt schon an die nächsten Jahre denken?

Ich sehe in der Tat ein moralisches und ethisches Gebot für Deutschland und die Europäische Union, mittel- und langfristig Unterstützung zu leisten. Dies wird uns aber unabhängig vom weiteren Verlauf des Krieges in jedem Fall vor beträchtliche Herausforderung stellen und eine größere Koordination erfordern, auch auf europäischer Ebene. Hier können und sollten die Wissenschaftspolitik und die Wissenschaftsorganisationen in Deutschland im Verbund mit ihren europäischen Partnern eine zentrale Rolle spielen, nicht zuletzt da wir über bundesweit eine breite und enorm ausdifferenzierte Osteuropaexpertise verfügen, auf die man aufbauen kann.

Hier stellt sich allerdings die Frage, wie die Wissenschaft in der Ukraine zukünftig wird arbeiten können. Wir können noch nicht abschätzen, wie viele Kolleginnen und Kollegen den Krieg mit dem Leben oder Folgen für ihre physische oder psychische Gesundheit bezahlen werden. Durch den brutal geführten Krieg, der auch vor zivilen Zielen nicht zurückschreckt, gibt es außerdem schon jetzt umfassende Zerstörungen. So ist die Universität Charkiv, 1804 als fünftälteste Universität im Zarenreich gegründet, in großen Teilen faktisch zerbombt. Sorgen mache ich mir als Historiker natürlich auch um jene Quellenbestände, kulturellen Zeugnisse, Baudenkmäler und Gedächtnisorte, die Bezugspunkte einer ukrainisch-nationalen Ausdeutung von Geschichte und Kultur sind und daher ins Visier russischer Zerstörungsaktionen geraten können. Rettungsaktionen wie jene in L’viv, dessen Archivbestände die Kriege des 20. Jahrhunderts so gut wie unbeschadet überdauert haben und die nun in einer konzertierten Aktion nach Polen in Sicherheit gebracht werden, sind ebenso bewundernswert wie notwendig.

Der Wiederaufbau wird also einer enormen Kraftanstrengung bedürfen…

Richtig. Ein umfassender Wiederaufbau wird uns in Europa insgesamt finanziell, aber auch logistisch extrem herausfordern. Und einmal auch speziell zu meinem Fachgebiet gesagt: Ebenso nötig wird eine konzeptionelle Unterstützung werden, die aber zwei Bedingungen erfüllen muss: Sie muss auf Augenhöhe erfolgen und von den Bedarfen der Kolleginnen und Kollegen in der Ukraine ausgehen, gleichzeitig aber auch die Anschlussfähigkeit an die internationale Forschung unterstützen. Eine ukrainische Gegnerhistoriografie als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg würde dem nicht entsprechen. Dazu benötigen wir aber eine koordinierte Offensive europäischer Netzwerken mit dem Ziel der weiteren Einbindung der Ukraine in die europäische Forschungslandschaft. Dies kann auch als Rückkehrhilfe für geflüchtete Kolleginnen und Kollegen ausgestaltet sein, sollte dies in mittlerer Zukunft wieder möglich werden. Auch gilt es, den Erfahrungsaustausch beim Wiederaufbau für die gesamte Wissenschaft in den Blick zu nehmen. So haben sich etwa in der Leibniz-Gemeinschaft quer über alle Disziplinen Institute zum Leibniz-Netzwerk Östliches Europa zusammengeschlossen, das in einer Weise Disziplinen übergreifend aktiv werden kann, die dem gesamten Wissenschaftssystem zugutekommen würde.

Auf welche Diskussionen müssen sich die Geisteswissenschaften einstellen?

Auch an die Geisteswissenschaften, die in den letzten drei Jahrzehnten ebenfalls von einer Friedensdividende profitiert haben, ergeben sich Fragen: Wie gehen wir mit dem Bedarf nach „harten“ Erklärungsansätzen um? Wie vermeiden wir ein mögliches Absolutsetzen des neuen Ost-West-Gegensatzes? Blüht uns die Rückkehr zur Gegnerforschung des Kalten Krieges? Stehen wir erneut vor einer „Ersatzforschung“, die in der Europäischen Union das zu kompensieren versucht, was in Ländern wie Russland oder Belarus selbst nicht mehr durchführbar wird? Letztere Frage stellt sich auch deswegen, da eine geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung zu Russland und Belarus auf Jahre extrem erschwert werden, weil Archiv- und Feldstudien nicht mehr planbar sind und zunehmend mit erheblichen persönlichen Risiken verbunden sein werden.

Und wie werden Sie mit den russischen Kolleginnen und Kollegen umgehen?

Wir stehen hier vor einer vertrackten Situation. Diejenigen unter den Kolleginnen und Kollegen in Russland, die sich nach dem Überfall auf die Ukraine offen gegen den Krieg ausgesprochen haben, verdienen großen Respekt und Unterstützung für ihren Mut und ihre Wahrheitsliebe. Gleichzeitig haben der Umgang der russischen Behörden mit der Organisation Memorial und die willfährigen Unterstützungsadressen der russischen Universitätsrektoren für Putin und seine Aggressionspolitik auch gezeigt, dass die Wissenschaft inzwischen in den Sog der Unterordnung alles Gesellschaftlichen unter die Machtprämissen des Kreml geraten ist. Einig sind sich allerdings alle, dass die Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen umgehend auszusetzen oder zu beenden ist. Der Schaden, die hier nicht nur für die deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen entsteht, sondern auch für das Arbeiten an einer mehrstimmigen, vielschichtigen und dynamischen Geschichte Europas, zu dem Russland zweifellos gehört, sind noch nicht ansatzweise zu ermessen. Ich nehmen an, dass sich nun die Aggressivität einer imperial-russländischen Geschichtsschreibung ebenso steigern wird wie Kampagnen gegen wissenschaftliche Institutionen im Ausland, die die Geschichte der Ukraine unter anderen Vorzeichen thematisieren. In Russland selbst werden wir uns auf eine zunehmende Kriminalisierung von Perspektiven einstellen müssen, die der monoperspektivischen, dogmatisch-patriotischen Geschichtsschreibung des Regimes Putin entgegenstehen.

In der Politik wird der russische Angriffskrieg auf die Ukraine schon heute als geschichtliche Zäsur umschrieben. Teilen Sie als Historiker diese Sichtweise?

Ja, auf jeden Fall. Wenn wir dem Zeithistoriker Martin Sabrow folgen, können wir den Krieg Russlands gegen die Ukraine als Erfahrungs- und Ordnungszäsur begreifen, gleichzeitig aber auch als Deutungszäsur, die in der kollektiven Signalwirkung vergleichbar ist mit Einschnitten wie 1989 und 2001. Was wir schon seit längerem beobachten können ist die Entwicklung Russlands von einer Autokratie hin zur Diktatur, in der das demokratische System faktisch komplett ausgehöhlt ist. Das Rechtswesen und die Medien sind gerade durch die Entwicklung in den letzten Wochen zu einer Infrastruktur des Machterhalts verkommen. Wir sahen schon vor dem Krieg ein Wiederaufleben des militärisch-industriellen Komplexes nicht unter dem Gesichtspunkt des Gemeinwohls, sondern unter den Vorgaben von Armee und Geheimdiensten und eine Militarisierung der Gesellschaft.

Dazu kommt der Einsatz des Digitalen als Waffe in Form von Cyber-Angriffen und Desinformationskampagnen – hier stehen wir meiner Einschätzung nach wohl noch am Anfang einer länger andauernden, wohl auch die Wissenschaft betreffenden Entwicklung. Hier stellt sich meines Erachtens die Frage des richtigen Umgangs mit „fake pasts“ im digitalen Raum. Hier braucht es neue Methoden, um Geschichts- und Quellenfälschungen im Netz als solche überhaupt erkennen zu können – bis hin zur digitalen Forensik und einer entsprechenden Didaktik. Hier müssen wir aber auch über ein neues Selbstverständnis und die Instrumente diskutieren, über die wir unser Deutungswissen bereitstellen wollen, um der neuen Unübersichtlichkeit zu begegnen. Es braucht auch eine abgestimmte Politik, um wissenschaftliche Institutionen, die sich mit Russland und der Ukraine beschäftigen, vor Diffamierungskampagnen, Hackerangriffen und digitalen Infiltrationsversuchen bestmöglich zu schützen.

Und die russische Staatsführung entfernt sich in den Erklärungen nicht zuletzt von historischen Wahrheiten…

Das ist für mich als Historiker besonders beängstigend. Ich möchte das, was da im Führungszirkel um Putin zu beobachten ist, als Spiritualisierung des Wahrheits- und Faktenbezug bezeichnen. Das ist die oft beschworene „Parallelwelt“ Putins. Dies zielt auf die mentale Abschottung der gesamten Gesellschaft in einer nationalzentrierten Denkwelt, die sich wesentlich auf ein geschlossenes und absolut gesetztes Geschichtsbild stützt. Ich bewerte die Orientierung auf eine „glorreiche“ imperiale Vergangenheit als Kompensation dafür, dass das heutige Russland eigentlich weit unter seinem ökonomischen und kreativen Potenzial bleibt. Unter anderen politischen Rahmenbedingungen hätte Russland seit den 1990er Jahren aufblühen können, nun wird aber immer wieder darauf verwiesen, dass trotz des Rohstoffreichtums des Landes die Leistungsfähigkeit der russischen Wirtschaft hinter der von Italien oder Kanada zurückbleibt. Zusätzlich wird mit den Maßnahmen gegen den Klimawandel und dem Ende fossiler Brennstoffe das russische Wirtschaftssystem in spätestens 50 Jahren in eine schwere Orientierungskrise geraten. Das würde ein Umsteuern der Politik in Richtung neuer Ökonomien notwendig machen. Das sehe ich derzeit aber nicht. Der Konflikt zwischen Telegram-Gründer Pawel Durow und den russischen Behörden ist nur eines von vielen Beispielen dafür, dass in Russland zurzeit eine kleptokratische Führung ökonomisch-gesellschaftliche Innovation verhindert, teilweise sogar kriminalisiert. Zentral ist hier, dass durch die globale Verflechtung und Kommunikation dieses System immer wieder an seine Grenzen stößt. Daraus folgen inneren Spannungen, die dann schubweise externalisiert werden – wie in Georgien 2008, in der Krim 2014 und seit dem 24. Februar.

Das alles wurde von der Osteuropaforschung bereits seit Jahren so festgehalten, dennoch hat das Ausmaß der aktuellen Eskalation auch uns überrascht und schockiert. Nicht erwartet hatte ich allerdings die große Solidaritätswelle für die Ukraine. Darin erkenne ich eine fast umfassende Rückbesinnung der Weltgemeinschaft auf zentrale und universale Werte. Getrübt wird die Bilanz allerdings dadurch, dass einige wichtige Länder sich der UNO-Resolution zu einer Verurteilung des Angriffskriegs gegen die Ukraine nicht angeschlossen haben – hier ist neben China vor allem die Atommacht Indien zu nennen. Was den Zäsurcharakter des gegenwärtigen Krieges besonders unterstreicht ist daher die Tatsache, dass wir hier aktuell einen Referenzfall beobachten können, der vor dem Hintergrund des atomaren Bedrohungspotenzials Russlands die Entwicklung eines globalen, der globale Politik nachhaltig verändern wird. Und unabhängig vom Ausgang des Krieges wird ein Russland unter Wladimir Putin international isoliert blieben. Jede Form der Zusammenarbeit, die auf Vertrauen basieren muss, halte ich auf absehbare Zeit für ausgeschlossen. Durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine stehen uns daher globalpolitisch neue Zeiten bevor, in der vermutlich mehr politische Grundsätze auf dem Prüfstand stehen werden als uns das lieb ist. Der Begriff der „Zeitenwende“ ist daher mehr als angebracht.

Vielen Dank für Ihre Einschätzung, Herr Prof. Haslinger!

(Das Interview erfolgte schriftlich am 04.4.2022)

Online-Portal Copernico

Das Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg betreibt das Online-Portal Copernico. Dort informieren Einrichtungen aus den Bereichen Wissenschaft und Kulturerbevermittlung über die gemeinsame Geschichte und das geteilte kulturelle Erbe im östlichen Europa. Im Copernico-Blog finden Sie weitere Beiträge zum Krieg gegen die Ukraine.“
 

 

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