Alle in einem Boot? HEUREC erforscht Solidarität in der EU

Wer in Europa wem welche Leistungen schuldet, wird kontrovers diskutiert. Wie verstehen die Menschen in Europa Fairness, Reziprozität und Zusammenhalt? Das hat die Technische Universität Darmstadt seit April 2021 drei Jahre lang im Rahmen der BMBF-Förderlinie "Zusammenhalt in Europa" analysiert - in neun europäischen Ländern.

Projektleiter Prof. Dr. Jens Steffek, seit 2010 Professor für Transnationales Regieren am Institut für Politikwissenschaft an der TU Darmstadt

Projektleiter Prof. Dr. Jens Steffek, seit 2010 Professor für Transnationales Regieren am Institut für Politikwissenschaft an der TU Darmstadt,

Im Interview: Projektleiter Prof. Dr. Jens Steffek, seit 2010 Professor für Transnationales Regieren am Institut für Politikwissenschaft an der TU Darmstadt.

Bis vor kurzem waren Sie als Visiting Fellow am Centre for International Peace and Security Studies (CIPSS) der McGill University in Montréal zu Gast. Wenn Sie mit etwas zeitlichem und räumlichem Abstand auf Ihr BMBF-Projekt „HEUREC“ blicken, was ist Ihrer Meinung nach die wichtigste Erkenntnis?

Dass die Europäische Union ein einzigartiges und auch sehr spezielles Gebilde ist. Die Menschen, mit denen wir im Projekt gearbeitet haben, sehen die EU als Solidargemeinschaft über nationale Grenzen hinweg, und zwar mit großer Selbstverständlichkeit. Auch Kanada und die USA kooperieren eng, aber die Solidarität hält sich in Grenzen. Bei einem militärischen Angriff von außen oder einer Naturkatastrophe würde man sich zwar auch in Nordamerika Beistand leisten. Die Idee, grenzüberschreitend gleiche Lebensverhältnisse zu schaffen, auch durch finanzielle Transfers und gemeinsame Förderprogramme, ist für Kanadier und US-Amerikaner dagegen schlicht abwegig. Aus der Distanz tritt die Besonderheit des europäischen Integrationsprojekts immer wieder besonders klar hervor, und das gilt gerade für die Frage der Solidarität. 

Ihr Projekt zielte darauf ab, typische Erzählmuster zu identifizieren und so die gesellschaftlichen Voraussetzungen für solidarisches Handeln auf europäischer Ebene besser zu verstehen. Bitte erklären Sie kurz, wie dies dank Fokusgruppeninterviews gelingen konnte.

Fokusgruppen sind relativ kleine Diskussionsrunden, in denen Menschen, die sich vorher nicht kennen, sehr frei über vorgegebene Themen sprechen können. Anders als Meinungsumfragen erlaubt uns dieses Format, nicht nur Einstellungen zu bestimmten Themen zu erfassen, sondern auch die Begründungen, die sich die Menschen wechselseitig dafür geben.

Wir hatten im HEUREC-Projekt die Möglichkeit, jeweils drei Fokusgruppen in neun europäischen Ländern durchzuführen. Den Leitfaden dafür haben wir in Darmstadt gemeinsam in einer Gruppe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus diesen Ländern erarbeitet, so dass die Ergebnisse gut vergleichbar sind. Interessant war, dass Erzählungen über die europäische Integration immer noch stark den nationalen Perspektiven verhaftet bleiben, auch wenn sich die Menschen grundsätzlich zu Europa bekennen. Die EU ist für viele Menschen ein abstraktes Gebilde, das nur in einem nationalen Bezugsrahmen erlebbar wird. Was sich dagegen über die Grenzen hinweg wiederfindet sind typische Argumentationsfiguren. Ein Beispiel dafür wäre die Metapher von der EU als einem gemeinsamen Boot, in dem wir alle sitzen und das wir durch gemeinschaftliche Anstrengung vorwärts bringen müssen. Daran wurden in den Gruppen Forderungen nach Solidarität angeknüpft, aber ebenso Fragen der Fairness („alle müssen mitrudern“).

Sie haben viel für den Transfer Ihrer Forschungsergebnisse in Wissenschaft und Politik getan. Welche Erwartungen verknüpfen Sie mit Ihrem im Juni 2024 erschienenen Open-Access-Buch zu Solidarität und Reziprozität in der Europäischen Union?

Das Buch richtet sich natürlich vor allem an unsere Kolleginnen und Kollegen in der Wissenschaft. Wir sind sehr froh, dass wir es mit Hilfe der Fördergelder Open Access publizieren und es so allen Interessierten zugänglich machen konnten, auch in Ländern, die finanziell nicht auf Rosen gebettet sind. Die Erwartung ist zum einen, die substantiellen Ergebnisse unserer Forschung in die akademische Debatte einzubringen. Zum anderen hoffen wir, auch den Mehrwert einer qualitativen Sozialforschung durch Fokusgruppendiskussionen noch einmal zu unterstreichen. Mit Politik und Gesellschaft hatten wir Veranstaltungen in Darmstadt und Brüssel, die sehr aufschlussreich waren und bei denen wir einige praktische Implikationen unseres Projekts in den Mittelpunkt stellen konnten. Was wir in den Fokusgruppen beispielsweise gefunden haben, war eine große Skepsis gegenüber neuen Kompetenzen für „Brüssel“ in der Sozialpolitik, und diese Beobachtung zog sich quer durch alle neun Länder.

Besten Dank für das interessante Interview, Herr Professor Steffek!

(Das Interview erfolgte schriftlich am 19. Juli 2024, Fragen: Katrin Schlotter)

HEUREC- Forschungsprojekt zum sozialen Zusammenhalt in Europa

Das BMBF-geförderte Projekt HEUREC – How Europeans understand fairness, reciprocity and cohesion untersuchte in neun Ländern der Eurozone, welche Reziprozitätserwartungen Menschen gegenüber anderen europäischen Ländern und den Institutionen der Europäischen Union haben. Ziel des Projekts war es, typische Erzählmuster zu identifizieren und so die gesellschaftlichen Voraussetzungen für solidarisches Handeln auf europäischer Ebene besser zu verstehen.
Projektleiter: Prof. Dr. Jens Steffek und apl. Prof. Dr. Björn Egner, in Kooperation mit Prof. Dr. Hubert Heinelt (Professor im Ruhestand)

Förderlinie: Zusammenhalt in Europa

Laufzeit: 1. April 2021 bis 1. April 2024.