Regionalstudien: Im Interview Prof. Dr. Annette Werberger, Leiterin des Forschungsverbundprojekts EUTIM
Die Hintergründe und Folgen des Ukraine-Kriegs analysieren – welchen Beitrag leisten die Geistes- und Sozialwissenschaften?
Die Hintergründe und Folgen des Ukraine-Kriegs analysieren – welchen Beitrag leisten die Geistes- und Sozialwissenschaften?
Prof. Dr. Annette Werberger leitet das BMBF-Verbundprojekt „Europäische Zeiten/European Times – A Transregional Approach to the Societies of Central and Eastern Europe (EUTIM). Seit 2012 ist sie Professorin für Osteuropäische Literaturen an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder.
Bei EUTIM vereinen wir sehr viele Forscherinnen und Forscher, die schon viele Jahre zu Ukraine und Belarus arbeiten – was eher eine Seltenheit in den Osteuropastudien darstellt. Zunächst gab es großes Interesse an unserer Ukraine-Expertise, und erst danach kam die Frage zu den unterschiedlichen europäischen Zeitvorstellungen auf.
Die Fragen von Journalisten, Studierenden und einer interessierten Öffentlichkeit waren ganz klassisch zu Geschichte, Kultur, Politik der Ukraine, manchmal zu Russland und Putin, leider selten zu Polen. In Deutschland fehlt wie in anderen westeuropäischen Ländern Grundlagenwissen. Ich denke, viele hatten keine Ahnung, wo Odesa oder Charkiv liegen, und viele wissen auch nicht, dass die Rote Armee im Zuge des Hitler-Stalin-Pakts zwischen 1939 und 1941 Teile Ostmitteleuropas besetzte.
In Deutschland kommt hinzu, dass viele glauben, etwas über Ukraine, Russland und die Sowjetunion zu wissen und dabei eigentlich nur russische Desinformation wiederholten. Das hat die Aufklärungsarbeit zur Ukraine unglaublich erschwert. Man musste nicht nur neues Wissen vermitteln, sondern falsches Wissen zusätzlich widerlegen. Die Ukraine war für viele in Deutschland somit gar nicht „terra incognita“, sondern fälschlicherweise „russisches“ Land. Viele Deutsche besaßen eine russischgeprägte „Meinung“ zur Ukraine, die höchst problematisch und oft schlichtweg falsch war. Es gibt wohl kaum ein vergleichbares europäisches Land, bei dem wir so häufig gefragt wurden, ob die wichtige Landessprache Ukrainisch überhaupt existiert. Wir sind daran gewöhnt, dass man slawische Sprachen nicht unterscheiden kann, aber das falsche Wissen über die Ukraine war zutiefst verstörend, auch für unsere ukrainischen Mitarbeiter:innen. Wir haben somit monatelang gegen falsche Begriffe, Geschichten und Vorurteile gekämpft, dabei kannten wir diese Problemlage spätestens seit 2013/14.
Aber die Fragen werden seit dem Sommer nun spezifischer: Kulturerbe, Kunst, Mehrsprachigkeit, russischer Nationalismus, regionale Unterschiede, Religionen, Literatur etc. Da es so wenige Experten gibt, müssen wir einen breiten Fragenkatalog bedienen.
Es geht um Ungleichzeitigkeiten. Hier hat das Wort des Kanzlers von der „Zeitenwende“ fast symbolisch die Wirklichkeit unseres Themas eingeholt. Wir hatten als erste These in EUTIM, dass es unsichtbare Zeitregime zwischen Ost und West gibt, die den gemeinsamen Dialog und gegenseitige Verständnis erschweren. Deutschlands Blick war tatsächlich höchst unzeitgemäß: Man hatte „Osteuropa“ stillgestellt, Veränderungen blieben verborgen und man achtete wie noch in Zeiten des Kalten Kriegs nur auf „Moskau“. In einem zweiten Schritt wollten wir auf die unterschiedliche Zeitlichkeiten der postsozialistischen Länder eingehen, die man lange Zeit als einheitlichen Block betrachtet hat. Wenige hatten bemerkt, dass die Zeitvorstellungen zwischen Russland und Ukraine seit den Nullerjahren immer stärker auseinanderdrifteten, man betrachtete das immer nur als geopolitische Verwerfungen. Aber es waren grundlegend andere Vorstellungen von einer zukünftigen Gesellschaft, Politik und politischen Nation, die Russen und Ukrainer trennten. Der Krieg hat die übermäßige Vergangenheitsbezogenheit Russlands und die Zukunftsorientiertheit der Ukraine drastischer aufgezeigt, als jedes Forschungsprogramm dies tun könnte. Der Krieg hat gezeigt, dass die Westeuropäer lange Zeit nicht bemerkt haben, dass sie sich eigentlich nicht mit den gesellschaftlichen Vorstellungen der Mittel- und Ostmitteleuropäer auseinandergesetzt haben. In puncto Digitalisierung ist man uns zudem weit voraus und viel innovative Schritte gegangen. Man hat sich in Westeuropa nicht die Zeit genommen, die Vielfalt der Stimmen in Ostmitteleuropa zu hören und vieles einfach als Nationalismus abgetan, was Russland gefallen hat. Postsozialismus war ein Wort, das somit viel verstellt hat, es war ein Ersatzbegriff für „sowjetisch“ und „osteuropäisch“. Wir sollten in Zukunft mehr „estnisch“, „ukrainisch“ oder „tschechisch“ sagen.
In gewisser Weise haben wir alle in den letzten sieben Monaten unsere Formate gewechselt: Wir haben zwar weiterhin Promotionsprojekte, Tagungen, planen wissenschaftliche Aufsätze und Sammelbände, aber alle in EUTIM sind in den Transferbereich eingestiegen. Wir publizieren in internationale Zeitungen, geben Interviews im Radio, bewegen uns in den Sozialen Medien und gehen auf Podien. Wir haben auch in der Lehre noch mehr aktuelle Themen aufgenommen. Wir nehmen sehr viele Termine wahr, das ist auch für das Privatleben nicht immer einfach. Die deutsche Öffentlichkeit ist momentan auch wichtiger als ein „Scopus-ranking“. Nur beim Nachwuchs achten wir darauf, dass sie weiterhin die nötigen Qualifikationsziele erreichen und eben wissenschaftliche Artikel in einschlägigen Zeitschriften veröffentlichen.
Sehr erfreulich – trotz des traurigen Anlasses – sind zudem die neuen Kolleginnen aus der Ukraine, die dank der Volkswagen-Stiftung und Alexander-von-Humboldt-Stiftung mit Stipendien zu uns an die Uni Potsdam, an die Viadrina oder ans Forum Transregionale Studien dazu gestoßen sind. Sie wirken auch nach außen mit ihren Projekten und nach innen in die Fachgemeinschaft mit ihren raren Kenntnissen.
Ich glaube gar nicht, dass es eine genuin neue Forschungsfrage gibt, unsere alten sind alle noch relevant. Mir persönlich und auch den Kollegen bei EUTIM liegt die Wissenschafts- und die Ideengeschichte sehr am Herzen. Alle stürzen sich auf diese seltsamen Gestalten wie Alexander Dugin und Iwan Iljin, aber es gibt wichtige ukrainische Denker wie Iwan Dsiuba oder Viktor Petrow, die kein Mensch kennt und nicht Zerstörung, sondern Zukunft denken. Wir müssen mehr denn je Wissen über die ostmitteleuropäischen Länder sammeln und verbreiten, momentan vor allem über die Ukraine, auch mit dem Blick auf den Wiederaufbau nach dem Krieg. Man muss in Deutschland besser verstehen, dass die Ukrainer spätestens mit der Orangenen Revolution um eine eigene demokratische Zukunft gerungen haben und sich von den autoritären Vorstellungen von Staatlichkeit verabschieden wollten. Auch die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit gehört dazu und lässt sich anhand von vielen Beispielen (2. Weltkrieg, ukrainisch-jüdische Geschichte, Gulag und Stalinismus) zeigen.
Unsere jüngeren Kolleginnen und Kollegen stellen in den letzten Monaten immer wieder zwei alte Fragen, die wir in den nächsten Jahren methodisch noch besser in den Griff bekommen sollten: Das ist zum einen die Frage der Dekolonialisierung der osteuropäischen, insbesondere der russischen und sowjetischen Geschichte, die wir nicht einfach mit dem Instrumentarium der britisch-amerikanischen Postcolonial Studies behandeln sollten. Zum anderen die Frage nach der Idee der sowjetischen Moderne, die manchmal noch wie eine alternative, antikoloniale, bessere Moderne betrachtet wird, wogegen sich zum Beispiel Forscher:innen, die über Zentralasien oder die Ukraine forschen, wehren. Ich denke, das sind zwei Felder, die in der nächsten Zeit insbesondere von der jüngeren Generation behandelt werden. Dabei werden wir gemeinsam nach einer passenden Begrifflichkeit suchen. Diese Forschungsfelder sind aufgrund des Kriegs und der mittlerweile unsicheren Lage in Zentralasien oder im Kaukasus akuter geworden.
Besten Dank für Ihre Einschätzung, Frau Professorin Werberger!
(Das Interview erfolgte schriftlich am 21. September 2022)
Das Verbundprojekt „Europäische Zeiten/European Times – A Transregional Approach to the Societies of Central and Eastern Europe (EUTIM) wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Bereich Regionalstudien gefördert. Diese Förderlinie hat die theoretische, konzeptionelle, methodische und empirische Weiterentwicklung der area studies zum Ziel. Seit April 2021 erhalten acht Verbund- und vier Einzelprojekte eine dreijährige Förderung im Umfang von rund 20 Millionen Euro.
Weitere Informationen: Regionalstudien - Erforschung der Welt
Europäische Zeiten/European Times – A Transregional Approach to the Societies of Central and Eastern Europe ist ein Forschungsverbundprojekt des Lehrstuhls für Osteuropäische Literaturen an der Europa-Universität Viadrina (Prof. Dr. Annette Werberger, Prof. Dr. Andrii Portnov), dem Lehrstuhl für Literatur und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Potsdam (Prof. Dr. Alexander Wöll) und des Forum Transregionale Studien in Berlin (Georges Khalil). EUTIM wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Förderlinie Regionalstudien (Area Studies) über einen Zeitraum von drei Jahren gefördert. EUTIM analysiert ausgehend von den historischen Erfahrungen und Denkweisen in den Gesellschaften Mittel- und Osteuropas ungleichzeitige Konzepte von „alt vs. neu“ und „Ost vs. West“ auf gesamteuropäischer Ebene insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart.