Zusammenhalt: ZUSE erforscht das Leitnarrativ der EU als Sicherheitsgarantin
In Zeiten multipler Krisen betonen europäische Institutionen und Staaten die Rolle der EU als Garantin umfassender Sicherheit, um damit den Zusammenhalt in und zwischen europäischen Gesellschaften zu befördern. Über Sicherheit als neues Leitnarrativ der EU forscht das BMBF-Verbundprojekt „ZUSE– Zusammenhalt durch Sicherheit“.
Im Interview: ZUSE-Projektkoordinator Dr. Hendrik Hegemann, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) an der Universität Hamburg
Wie stellt sich die EU in aktuellen Diskursen als Sicherheitsgarantin dar? Und was bedeutet Sicherheit dabei eigentlich?
Wir verstehen Sicherheit als einen gesellschaftlichen Wert, der eng mit Erfahrungen von Schutz, Kontrolle und Stabilität verbunden ist. Als gesellschaftlicher Wert kann Sicherheit unterschiedliche Bereiche umfassen und sich zum Beispiel auch auf die Gesundheits- oder Klimapolitik beziehen. Wir beobachten, dass angesichts von Krisenwahrnehmungen ein grundlegendes Schutzversprechen der EU gegenüber ihren BürgerInnen an Bedeutung gewinnt. Konkret zeigt sich das zum Beispiel darin, dass europäische Institutionen das Bild eines „Europa, das schützt“ zeichnen oder sich für den Erhalt einer sogenannten „europäischen Lebensweise“ einsetzen. Diese Erzählungen lösen etablierte Vorstellungen etwa von der EU als „Friedensprojekt“ und der Überwindung der eigenen gewalttätigen Vergangenheit ab. Anstelle dessen könnte die Selbstbeschreibung der EU als Sicherheitsgarantin ihr eigenes Selbstverständnis grundlegend prägen.
Ihr Verbund untersucht drei Leitfragen: die politische Ausgestaltung, die administrative Umsetzung sowie die gesellschaftlichen Auswirkungen von Sicherheit als neues Leitnarrativ europäischer Integration. Wie erforschen Sie diese Fragen konkret?
Die Teilprojekte bringen verschiedene Disziplinen und Methoden zusammen. Um politische Diskurse über europäische Sicherheit zu analysieren, untersuchen die KollegInnen in Tübingen etwa Reden im europäischen Parlament und im deutschen Bundestag zwischen 1990 und 2020. Sie schauen, wie sich Vorstellungen von Sicherheit und Zusammenhalt über die Zeit entwickeln und welche Erzählungen von Europa dabei besonders hervorstechen.
Das Teilprojekt an der Helmut-Schmidt-Universität nutzt vor allem Feldforschung vor Ort, um zu verstehen, wie sich abstrakte Konzeptionen von Europa und Sicherheit in konkrete Alltagserfahrungen übersetzen. Sie konzentrieren sich dabei auf den gesellschaftlichen Umgang mit Fluchtmigration und forschen unter anderem in der Republik Moldau und in Griechenland. Wir am IFSH beschäftigen uns vorwiegend damit, was Bürokrat: innen im „Maschinenraum“ europäischer Integration, also etwa in der Europäischen Kommission, unter Sicherheit verstehen und was das für ihr eigenes Selbstverständnis bedeutet. Dazu führen wir unter anderem zahlreiche Interviews in Brüssel.
Gibt es schon erste Ergebnisse?
Derzeit befinden wir uns in der Mitte der Projektlaufzeit und sind mit der Ausrufung von Ergebnissen noch vorsichtig. Ein paar erste Befunde lassen sich aber bereits erkennen. Wir sehen zum Beispiel, dass Vorstellungen der EU als Garantin umfassender Sicherheit eng mit einer grundlegenden Krise liberaler Fortschrittsnarrative verbunden sind, die etwa durch die Covid-Pandemie oder die immer deutlicher zu Tage tretenden Folgen des Klimawandels befeuert wird. Es zeigt sich aber auch, dass verschiedene Verständnisse von Sicherheit kontextabhängig mobilisiert werden, und starke gesellschaftlich exkludierende sowie inkludierende Auswirkungen haben. Das wird deutlich, wenn man den Umgang mit Geflüchteten aus der Ukraine mit Reaktionen auf Fluchtbewegungen über das Mittelmeer vergleicht. In der Feldforschung in Moldau wurde zudem schnell deutlich, dass humanitäre Hilfe für Geflüchtete aus der Ukraine bestehende soziale Ungleichheiten vor Ort in Moldau ausbalancieren muss. Zudem lässt sich in der Dokumentenanalyse erkennen, dass Sicherheit als Wert über die Zeit wichtiger wird. Er ist nicht nur Mittel zum Zweck – etwa um notwendige Maßnahmen umzusetzen –, sondern wird zunehmend auch mit einer gemeinsamen europäischen Identität und geteilten Wertvorstellungen verbunden.
Ziel Ihres Verbundprojektes ist ein differenziertes Verständnis von Sicherheit als europäisches Leitnarrativ. Wie möchten Sie zu einem differenzierteren Verständnis beitragen?
Wichtig ist uns, dass Sicherheit ein effektiver, aber auch ein problematischer Begriff ist, um Zusammenhalt in Europa zu fördern. Für den gemeinsamen Kampf gegen bestimmte Bedrohungen lässt sich leicht Zustimmung generieren. Und das stärkt die kollektive Identität. Doch stellt dieses Leitnarrativ auch einen Exklusionsmechanismus dar, der es erlaubt, bestimmte Gruppen und Überzeugungen auszuschließen, weil sie als Sicherheitsrisiko gelten. Man denke zum Beispiel an die Stigmatisierung bestimmter Migrant: innen und die Zunahme rechtspopulistischer Parteien und Überzeugungen in mehreren Mitgliedsstaaten. Zudem kann das Denken in Sicherheitskategorien eine Politik stärken, die den Erhalt des Status Quo betont, und die aktive Gestaltung von Zukunftsherausforderungen in den Hintergrund drängt. Diese möglichen Konsequenzen sollten daher immer mitgedacht werden.
(Das Interview erfolgte schriftlich am 12.08.2022)
Förderlinie „Zusammenhalt in Europa“
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert das Verbundprojekt „ZUSE“ in der Förderlinie „Zusammenhalt in Europa“. Die mit insgesamt 12 Millionen Euro geförderten Einzel- und Verbundvorhaben aus den Geistes- und Sozialwissenschaften untersuchen während einer dreijährigen Projektlaufzeit den Zusammenhalt in der Europäischen Union (EU) aus interdisziplinärer Perspektive.
Das BMBF-Verbundprojekt ZUSE
ZUSE ist ein gemeinsames Forschungsprojekt des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) mit der Helmut Schmidt Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg und der Eberhard Karls Universität Tübingen. Das Projekt steht zudem im Austausch mit Praxispartnern aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft. Dies sind die Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland, die Gemeinsame Vertretung der Länder Hamburg und Schleswig-Holstein bei der Europäischen Union, die Bundeszentrale für politische Bildung und die Europa-Union Deutschland e.V. Es wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit einer Gesamtsumme von ca. 1,1 Millionen Euro gefördert. Laufzeit: Februar 2021 – Dezember 2023
Alexia Hack, Teilprojekt „Praktiken und Materialitäten von Zusammenhalt und Sicherheit: Ethnographische Perspektiven auf Konfliktzonen Europas“ an der Helmut Schmidt Universität in Hamburg
Oliver Merschel, ZUSE-Teilprojekt „Administrativer Zusammenhalt“ am IFSH
Katharina Wuropulos, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt „Praktiken und Materialitäten von Zusammenhalt und Sicherheit“ an der Helmut Schmidt Universität
Dr. Franziskus von Lucke, wissenschaftlicher Mitarbeiter „Durch Sicherheit zur europäischen Identität“ an der Universität Tübingen
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