Border Studies: Zusammenhalt an den innereuropäischen Grenzen

Ob Corona-Pandemie oder Verkehrspolitik – wie belastbar der europäische Zusammenhalt ist, zeigt sich besonders an den europäischen Binnengrenzen. Mit dem BMBF-Verbundprojekt „CoBo“ untersucht die Universität Erlangen-Nürnberg zusammen mit der Hochschule St. Gallen und Praxispartnern den „Territorialen Zusammenhalt in Deutschlands Grenzregionen“ und lotet bestehende Potenziale aus.

Im Interview: Prof. Dr. Tobias Chilla, CoBo-Projektkoordinator, Professur für Geographie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Leiter der AG Regionalentwicklung

Herr Prof. Chilla, warum lässt sich an den Binnengrenzen der EU der europäische Zusammenhalt besonders gut erforschen?

Foto Prof. Dr. Tobias Chilla

Prof. Dr. Tobias Chilla, Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg, Naturwissenschaftliche Fakultät, Institut für Geographie

Prof. Dr. Tobias Chilla

In Grenzregionen treffen die unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften der europäischen Staaten aufeinander und zugleich die oft sehr verschiedenen Rechts- und Politiksysteme. Hier zeigt sich besonders konkret, wie Europa zusammenwächst – oder manchmal auch nicht. Beispielsweise haben wir bei den Grenzschließungen der Corona-Pandemie gesehen, dass die für selbstverständlich gehaltene Offenheit der innereuropäischen Grenzen in Krisenzeiten sehr schnell in Frage gestellt wurde. Zugleich sehen wir in vielen Grenzregionen ein wirkliches Zusammenwachsen – das zeigt sich im Arbeitsmarkt mit den zunehmenden Zahlen an Grenzpendlern, in den Siedlungsstrukturen und in einer zunehmenden Anzahl an politischen Kooperationsformen.

Welche Ziele verfolgen Sie mit Ihrem Verbundprojekt?

Unser Projekt CoBo hat zwei Ziele. Zum einen geht es darum, die Entwicklung der grenzüberschreitenden Integration besser zu verstehen. Dies meint die funktionalen Verflechtungen – beispielsweise in den Bereichen Wirtschaft, Arbeitsmarkt oder Verkehr. Auch die institutionellen Verflechtungen erfassen wir systematisch. Das zweite Ziel ist die Entwicklung von Perspektiven für Grenzregionen, wie die bestehenden Potenziale über Grenzen hinweg erschlossen werden können. Wir verstehen den europäischen Zusammenhalt vor allem im Sinne der ‚territorialen Kohäsion‘, die besonders die räumliche Differenzierung vornimmt.

Sie analysieren und vergleichen die jüngeren Trends und Zukunftsaussichten der Grenzregionen Deutschlands. Wie gehen Sie dabei vor?

Zum einen wenden wir das Instrumentarium der sekundärstatistischen Regionalanalyse an – oft mündet dies in kartographischen Aufbereitungen einschlägiger Indikatoren, beispielsweise im Bereich Demographie, Arbeitsmarkt, Erreichbarkeit usw. Darüber hinaus erstellen wir Governance-Analysen. Für uns besonders spannend ist die Delphi-Studie: Dabei handelt es sich um eine zweistufige Befragung von über 100 Experten aus den Grenzregionen rund um Deutschland. Hier fragen wir nach den Politikoptionen für die Zukunft.

Räumlicher Fokus des CoBo-Projektes – die Grenzregionen Deutschlands mit seinen Nachbarregionen – hier hinterlegt mit dem demographischen Indikator Bevölkerungsentwicklung

Räumlicher Fokus des CoBo-Projektes – die Grenzregionen Deutschlands mit seinen Nachbarregionen – hier hinterlegt mit dem demographischen Indikator Bevölkerungsentwicklung

Prof. Dr. Tobias Chilla

Gibt es vielleicht schon erste Erkenntnisse?

Zunächst einmal ist zu sagen, dass sich auch für Grenzregionen keine einfachen Wahrheiten formulieren lassen – auch deshalb, weil diese sehr verschiedenen sind. Sie umfassen verflochtene, metropolitane Räume wie die Region Basel; andere sind ländlich geprägt wie der deutsch-dänische Grenzraum; in Richtung Luxemburg wird primär aus Deutschland herausgependelt, aus Tschechien wird vor allem nach Deutschland hineingependelt. Insofern müssen wir unsere Ergebnisse wirklich behutsam interpretieren – wir befinden uns ja derzeit mitten im Projekt.

Allerdings gibt es immer wieder spannende Befunde im empirischen Detail. Ein Beispiel aus dem Verkehrsbereich: Unsere Analysen zeigen, dass die grenzregionalen Städte innerhalb eines Staates zumeist per Zug schneller erreichbar sind als mit dem Auto. Sobald eine Grenze überquert werden muss, ist es umgekehrt – das Auto ist schneller als der Zug. Es bleibt eine Herausforderung, die Verkehrsinfrastruktur über die Grenzen hinweg auf das gleiche Niveau zu bringen, wie es innerstaatlich vorhanden ist.

Und worum geht es bei Ihrer Delphi-Studie?

Auch hier gibt es schon interessante Antworten: Wir haben unsere Experten gefragt, ob sie Grenzregionen eher als Laboratorien sehen, in denen die Entwicklungen von Lösungen für alltägliche Probleme im Vordergrund stehen, oder ob es eher Museen sind, da in Grenzräumen oft noch Probleme bestehen, die auf gesamteuropäischer Ebene eigentlich schon gelöst sind – beispielsweise, dass Bewohner von Grenzräumen nicht ohne weiteres zu einem Arzt auf der anderen Seite gehen können, obwohl man beim Auslandsurlaub keine Probleme hat. Beide Sichtweisen finden Resonanz, aber die optimistische Lesart des „Labors“ überwiegt unter den Experten, wie die folgenden Abbildungen zeigen:

Grafik zu "Laboratories of European Integration?"

Laboratories of European Integration? - Grenzregionen eher "Laboratorien"?

Prof. Dr. Tobias Chilla

Grafik zu "Museums of Europe?"

Museums of Europe? - Grenzregionen eher "Museen"?

Prof. Dr. Tobias Chilla

Zusammen mit Praxispartnern erarbeiten Sie Empfehlungen für verschiedene Politikebenen. Was ist Ihnen dabei besonders wichtig? Haben Sie schon jetzt eine grundlegende Empfehlung?

Wir stehen jetzt am Anfang der partizipativen Phase unseres Projektes. Diese enthält regionale Workshops in deutschen Grenzregionen und eine große Konferenz im Jahr 2023 unter Beteiligung von Akteuren aus allen Grenzräumen Deutschlands mit seinen Nachbarstaaten. Dabei geht es darum, die Ergebnisse der vergleichenden Analysen in politischen Aktivitäten münden zu lassen. In diesem Prozess sind wir mindestens ebenso sehr Lernende wie Erklärende. Allerdings gehe ich schon mit einem Grundgefühl in diesen Prozess: In allen Regionen wird die grenzüberschreitende Kooperation mit viel Engagement betrieben. Dabei sehen wir oft eine hohe Bedeutung gut vernetzter Einzelpersonen vor Ort und zugleich eine gewisse Abhängigkeit von wechselnden europäischen Förderprogrammen. Dies ist eine Herausforderung für eine langfristige, strategische Raumentwicklung und geht mit der Gefahr einher, das Rad gelegentlich neu zu erfinden. Jede Grenzregion kann sich überlegen, ob sie ein grenzüberschreitendes Raumentwicklungs-Konzept machen will, und zu welchen Themen dort Aussagen getroffen werden sollen. Ein etwas robusteres Instrumentarium fände ich da schon oft wünschenswert. Aber da sind weite Wege zu gehen – dies- und jenseits der Grenzen.

(Das Interview erfolgte schriftlich am 27. September 2022)

Förderlinie „Zusammenhalt in Europa“

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert das Verbundprojekt „CoBo“ in der Förderlinie „Zusammenhalt in Europa“. Die mit insgesamt 12 Millionen Euro geförderten Einzel- und Verbundvorhaben aus den Geistes- und Sozialwissenschaften untersuchen während einer dreijährigen Projektlaufzeit den Zusammenhalt in der Europäischen Union (EU) aus interdisziplinärer Perspektive.
Mehr dazu

Das BMBF-Verbundprojekt CoBo - Territorialer Zusammenhalt in Deutschlands Grenzregionen

Projektlaufzeit: 01.01.2021 bis 31.12.2023

Koordinator: Prof. Dr. Tobias Chilla, Friedrich-Alexander Universität Erlangen Nürnberg Naturwissenschaftliche Fakultät, Institut für Geographie

Projektwebsite: CoBo – Cohesion in Border Regions

Projektpartner: Institut für Systemisches Management und Public Governance, Universität St.Gallen

Praxispartner:
Arbeitsgemeinschaft Europäischer Grenzregionen

Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen

Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung