Doppelinterview zum Umgang mit Bedrohungen in der Corona-Pandemie mit Prof. Meier und Prof. Renn

Es diskutieren: Prof. Dr. Mischa Meier, stellvertretender geschäftsführender Direktor und Professor für Alte Geschichte an der Eberhard Karls Universität Tübingen und Prof. Dr. Dr. Ortwin Renn, wissenschaftlicher Direktor am Institut für Transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Potsdam.

Bitte beachten Sie, dass hier lediglich die Meinung der Interviewten wiedergegeben wird.

Aus historischen Krisen lassen sich Erkenntnisse ableiten, wie Menschen typischerweise mit Bedrohungen umgehen. Gilt das auch für die Corona-Pandemie? Darüber sprechen wir mit Mischa Meier, stellvertretender geschäftsführender Direktor und Professor für Alte Geschichte an der Eberhard Karls Universität Tübingen und dem Soziologen Ortwin Renn, wissenschaftlicher Direktor am Institut für Transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Potsdam.

Herr Professor Meier, schon immer wurden Gesellschaften von schweren Krisen wie Epidemien, Kriege oder Katastrophen heimgesucht. Können wir aus der Geschichte lernen? Wenn ja, was?

Professor Meier

Mischa Meier, stellvertretender geschäftsführender Direktor und Professor für Alte Geschichte an der Eberhard Karls Universität Tübingen

Friedhelm Albrecht/Universität Tübingen

Mischa Meier: Eine schwierige Frage. Ich persönlich glaube, dass man aus der Geschichte nur sehr eingeschränkt lernen kann, weil sich Rahmenbedingungen historischer Ereignisse in der Regel fundamental voneinander unterscheiden. Historische Vergleiche – die Voraussetzung für ein Lernen aus der Geschichte – sind daher sehr kompliziert und kommen meist nicht über banale Aussagen hinaus.

Was man jedoch sehen kann ist, dass sich in Krisen oder bei Katastrophen bestimmte Muster des Handelns und Reagierens zeigen. Wenn Gesellschaften unter massiven Stress geraten, bilden sich z.B. sehr häufig Narrative heraus: Man versucht, eine Vergangenheit zu konstruieren, in der sich bestimmte Maßnahmen und bestimmte Formen des Umgang mit der Bedrohung vermeintlich als erfolgreich erwiesen haben, projiziert diese in die Gegenwart und leitet daraus wieder gewisse Zukunftsszenarien oder Handlungslegitimationen ab.

Und dies geschieht jetzt auch in der Corona-Krise?

Mischa Meier: Genau, auch in der Corona-Krise wird stark mit der Zukunft argumentiert, auch wenn sie sich nicht empirisch vorhersagen lässt, zugleich wird auf die Vergangenheit zurückgegriffen. Ein Beispiel ist das Phänomen der zweiten Welle: Niemand kann sagen, wie wahrscheinlich eine zweite Welle ist, trotzdem wird immer wieder mit der zweiten Welle argumentiert, u.a. um politisches Handeln wie z.B. die Aufrechterhaltung von Einschränkungen zu legitimieren. Argumente werden dann häufig aus der Vergangenheit, aus dem Umgang mit früheren Epidemien (Spanische Grippe, ja letztlich sogar bis zurück in die spätmittelalterlichen Pestzeiten) genommen und in die Zukunft projiziert (Verfügbarkeit eines Impfstoffs), obwohl sich natürlich die Rahmenbedingungen fundamental unterschieden haben, genauso wie die Erreger. Die Narrativierung solcher Bedrohungssituationen, um bestimmte Maßnahmen oder bestimmte Reaktionsmuster zu legitimieren, ist ein ganz typisches Muster der Bewältigungspraxis in Bedrohten Ordnungen.

Herr Prof. Renn, Herr Prof. Meier ist der Meinung, dass man aus der Geschichte nur sehr eingeschränkt lernen kann. Wie sehen Sie das? Speziell im Fall der Corona-Krise?

Professor Renn

Prof. Dr. Dr. Ortwin Renn, wissenschaftlicher Direktor am Institut für Transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Potsdam und Inhaber des Lehrstuhls „Technik- und Umweltsoziologie" an der Universität Stuttgart.

IASS Potsdam

Ortwin Renn: Jedes soziale Geschehen setzt sich zusammen aus drei Elementen: den spezifischen und einzigartigen Kontextbedingungen, die an den jeweiligen Zeitpunkt und den jeweiligen Ort gebunden sind; verallgemeinerbare und den systematischen Wissenschaften zugänglichen Verhaltensregelmäßigkeiten, die einen Vergleich über Ort und Zeit hinweg ermöglichen, und schließlich zufällige Schwankungen, die sich weder aus dem Kontext noch aus den systematischen Beobachtungen von Verhaltensweisen ableiten lassen.

Für den empirischen Sozialwissenschaftler ist vor allem das zweite Element, die Erforschung typischer Verhaltensmuster im Rahmen von festgelegten oder sogar standardisierten Kontextbedingungen von besonderem Interesse. Je nach Thema und je nach Datenlage können diese systematischen Studien ein Großteil des Verhaltens in einer Krisensituation erklären. Auch in der jetzigen Corona-Krise können wir auf der Basis psychologischer und soziologischer Theorien und Konzepte Verhaltensweisen von Individuen, Gruppen und Organisationen kausal oder zumindest funktional über statistische Korrelationsanalysen oder Simulationen rekonstruieren und bis zu einem gewissen Grade auch prognostizieren. Viele Reaktionsmuster, die wir in der jetzigen Corona-Krise erleben, sind auch schon früher bei Epidemien oder bei der Spanischen Grippe zu beobachten gewesen. Gleichzeitig erleben wir auch in der jetzigen Situation über alle Kulturen und Länder hinweg relativ ähnliche individuelle wie politische Reaktionen auf die Bedrohung durch das Virus. Beispielsweise, dass Menschen drei dominante Reaktionsmuster zeigen: Flucht, Kampf oder Totstellen (Ignorieren). Diese Muster systematisch zu sammeln und in eine kohärente Struktur zu bringen, ist eine wichtige Aufgabe der empirischen Sozialwissenschaften.

Um das Bild aber zu vervollständigen, können die geisteswissenschaftlichen Ansätze, hier vor allem die Geschichtswissenschaften, beitragen, die spezifischen Kontext-Bedingungen und die zeitlichen wie örtlichen Besonderheiten zu verdeutlichen und damit die erste Komponente menschlichen Verhaltens näher zu beleuchten. Bei der dritten Komponente – den zufälligen Schwankungen - helfen uns vor allem Theoretiker aus dem neuen Feld der Komplexitätswissenschaften und dem Feld der Stochastik, erkennbare Trends von Hintergrundrauschen zu trennen.

Herr Prof. Meier, in Tübingen befassen Sie sich seit Jahren in dem interdisziplinären Forschungsprojekt mit ‚Bedrohten Ordnungen‘ mit der Frage, wie Gesellschaften auf reale oder wahrgenommene Existenzbedrohungen reagieren. Wie schätzen Sie die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf unsere Gesellschaft ein: als Krise oder als Auflösung der Ordnung?

Mischa Meier: Das kann man im Grunde erst aus der Retrospektive beantworten. Was wir am empirischen Material unseres Projekts beobachten können, ist, dass der Kollaps einer gesellschaftlichen und politischen Ordnung eher die Ausnahme ist. In der Regel kommt es zu Anpassungen: Die Gesellschaft lernt, mit der Bedrohung zu leben oder die Bedrohung schleicht sich aus. Sie spielt dann irgendwann auch in der Kommunikation keine herausragende Rolle mehr. Vergleicht man die Bedrohungskommunikation etwa von März und April mit der heutigen Situation im Juni 2020, lässt sich bereits eine deutliche Abschwächung erkennen. Daran zeigt sich ein typisches Muster: Die Bedrohung lässt nach – und die Gesellschaft lernt gleichzeitig, mit ihr umzugehen, sie als Teil ihres Alltags zu sehen. Ich denke, dass sich diese Entwicklung fortsetzen wird. Vermutlich wird es über kurz oder lang zu einem gewissen Veralltäglichungseffekt kommen. In der merkwürdigen Formel von der ‚neuen Normalität‘ deutet sich das bereits an.

Corona gehört also zum „neuen Normal“ in unserem Alltag – sehen Sie das auch so, Herr Renn?

Ortwin Renn: Ja, dem kann ich voll zustimmen. Aus den Erfahrungen der Vergangenheit wissen wir, dass Menschen den Maßstab für das, was sie als normal oder noch akzeptabel ansehen, von den jeweiligen Umständen und Entwicklungen abhängig machen. Dahinter steckt zum Ersten ein einfacher Gewöhnungseffekt, Ereignisse werden dann als normal empfunden, wenn sie sich im Alltag dauerhaft widerholen. Steigt etwa die Zahl der durch oder an Corona gestorbenen Patientinnen und Patienten von zehn auf 100 ist es eine Sensation, steigt sie im späteren Verlauf einmal von 21.310 auf 21.400, also wiederum um 90 Personen, löst diese Steigerung allenfalls ein Achselzucken aus. Zum Zweiten werden die meisten Menschen im Verlaufe der Krise gewahr, dass nur wenige Personen, die sie kennen, unmittelbar betroffen sind, und wenn doch, werden nur die allerwenigsten schwere gesundheitliche Schäden erleiden. Daher wächst die Vermutung, dass man selber kaum betroffen sein werde. Und es trifft offenkundig auch nicht die Menschen, mit denen man besonders verbunden ist. Zum Dritten erfahren die meisten Menschen, dass sie selbst, wenn sie bestimmte Hygieneregeln nicht einhalten oder schlichtweg vergessen haben, mit heiler Haut davon kommen. Da einer der dominanten Lernprozesse in der Gesellschaft auf dem Prinzip Versuch und Irrtum beruht, werden Menschen zunehmend leichtsinnig, wenn sich keine negativen Konsequenzen bei Regelbrüchen zeigen. Daher ist es auch so schwer, selbst gute nachvollziehbare Regeln der Hygiene oder der physischen Distanzierung auf lange Zeit aufrecht zu erhalten.

Herr Prof. Meier, wie werten Sie im diesem Kontext die „Hygiene -Demonstrationen“?

Mischa Meier: Ein typisches Reaktionsmuster in Bedrohungssituationen ist, dass Machtkämpfe entstehen. Unterschiedliche Gruppen, die unterschiedliche Ansichten zum Umgang mit der Bedrohung haben, bilden sich heraus und bringen sich gegeneinander in Stellung – übrigens auch historisch in mitunter unerwarteten Koalitionen. In diesem Kontext sehe ich die Demonstrationen, sie sind ein typisches Element einer solchen Zuspitzung, sowohl im Handeln als auch in der Kommunikation. Mobilisierung wird in Bedrohungssituationen zu einem stärkeren Faktor als in normalen Zeiten, weil natürlich bestimmte Individuen oder Gruppen versuchen, Kapital aus der Situation zu schlagen. Es geht letztlich auch immer um die Neuverhandlung von Machtverhältnissen. Das ist empirisch für historische Bedrohungssituationen belegbar und zeigt sich auch aktuell sehr deutlich.

Herr Prof. Renn, Bedrohungen lösen also soziale Neuformierungsprozesse und scharfe Identitätsdebatten aus. Wie könnte eine nachhaltige Neuausrichtung aussehen?

Ortwin Renn: In Zeiten plötzlicher Bedrohung erleben wir in der ersten Phase meist eine Solidarisierung mit den Entscheidungsträgern aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. In der Gefahr schart man sich gerne um Führungspersönlichkeiten, denen die Menschen zutrauen, solche Situationen im Sinne des Gemeinwohls zu meistern. Dort, wo dieses Vertrauen nicht entsteht oder es offenkundig nicht gerechtfertigt erscheint, kommt es dagegen zu erhöhten Konflikten oder, wie etwa in den USA und Brasilien, zu einer verstärkten Polarisierung zwischen denjenigen, die das Vertrauen in die Führung haben und denjenigen, die dieses Vertrauen nicht teilen. Je mehr man sich aber an die Bedrohung gewöhnt, desto stärker werden die Fliehkräfte aus dem kollektiven Machtzentrum in die Peripherie. Auf den Solidarisierungseffekt folgt der Differenzierungseffekt. Je nach Situation und Kontext kann diese Differenzierung dazu beitragen, ein gemeinsames Ringen um die beste Lösung auszulösen oder aber auch bereits existierende oder schwelende Konflikte neu zu entfachen und mit der Krise zu verknüpfen. Häufig sind es auch Splittergruppen, die durch die Krise eine Chance sehen, um - von außen gesehen - absurde Erklärungen oder Verschwörungstheorien in den gesellschaftlichen Diskurs zu lancieren.

Gleichzeitig bieten Krisen auch Chancen, bisherige Ziele und Routinen noch einmal neu zu bedenken und gegebenenfalls auch neu auszurichten. Ob es zum Beispiel sinnvoll ist, die Mobilität mit PKWs und Flugzeugen in gleicher Intensität weiter zu verfolgen wie vor der Corona-Krise, kann man mit Fug und Recht infrage stellen. Auch die Erfahrung vieler Menschen, dass weniger Beschleunigung, mehr Zeit für die Familie und ein geringes Ausmaß an Konsum die Lebensqualität nicht unbedingt einschränken, kann dazu beitragen, auch den eigenen Lebensstil nachhaltiger zu gestalten. Schließlich ist es jetzt auch eine gute Gelegenheit, staatliche Anreize für die wirtschaftliche Belebung auf Investitionen zu lenken, die den Prinzipien der nachhaltigen Entwicklung entsprechen. Um bei der Mobilität zu bleiben: Ein Bonus für Verbrennungsmotoren sollte sich in dieser Logik verbieten. Mit der Corona-Krise sollte ein Lerneffekt verbunden sein: Unsere Gesellschaft braucht mehr Investitionen in Resilienz, d.h. der Widerstandskraft gegen unliebsame Überraschungen wie eine Pandemie, und in Nachhaltigkeit, um die Wahrscheinlichkeit und das Ausmaß weitreichender Krisen wie etwa den Klimawandel zu verringern.

  

Das Kleine Fach „Alte Geschichte“

Die Alte Geschichte zählt zu der geisteswissenschaftlichen Fachgruppe der Geschichtswissenschaften und ist derzeit an 54 Universitäten in Deutschland vertreten. Weitere Informationen finden Sie auf dem Portal Kleine Fächer

Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS)

Das Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (englisch Institute for Advanced Sustainability Studies, kurz: IASS) forscht mit dem Ziel, gesellschaftliche Wandlungsprozesse hin zur Nachhaltigkeit zu verstehen, zu befördern und zu gestalten. Der Forschungsansatz des IASS ist transformativ, transdisziplinär und ko-kreativ: Problemverständnisse und Handlungsoptionen entwickelt das Institut in Kooperation zwischen Wissenschaft, Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Das IASS forscht und berät in seinen Forschungsbereichen Systemische Wechselwirkungen, Wahrnehmung, Werte und Orientierung, Demokratische Transformationen, Governance für Umwelt und Gesellschaft und Energiesysteme und gesellschaftlicher Wandel. Mit dem Fellow-Programm fördert das IASS außerdem den weltweiten Austausch und die Vernetzung in der transformativen Nachhaltigkeitsforschung.


Quelle und weitere Informationen auf der Institutswebsite des IASS