Vertrauensfrage: SoVE-Projekt erforscht soziales Vertrauen in der EU

Vertrauen ist eine unverzichtbare Grundlage gesellschaftlichen Zusammenhalts in Europa. Aber lässt sich das erforschen? Selbstverständlich. Wie es um das transnationale soziale Vertrauen und Misstrauen untereinander bestellt ist, untersucht das BMBF-Verbundprojekt SoVE von der Universität Siegen zusammen mit dem Praxispartner European Alternatives.

Im Interview: Professor Dr. Christian Lahusen, Professor für Vergleichende Kultursoziologie und Politische Soziologie Europas an der Universität Siegen, und Dr. Johannes Kiess, PostDoc am Lehrstuhl für Vergleichende Kultursoziologie und Politische Soziologie Europas an der Universität Siegen.

Seit vielen Jahren erforschen Sie das Wechselspiel von Vertrauen und Zusammenhalt in der EU. Was ist denn die grundlegende Voraussetzung für Vertrauen, Herr Dr. Kiess?

Dr. Johannes Kieß

Dr. Johannes Kieß, PostDoc am Lehrstuhl für Vergleichende Kultursoziologie und Politische Soziologie Europas an der Universität Siegen

Dr. Johannes Kieß

Johannes Kiess: Wenn wir Vertrauen als Erwartungen an künftiges Verhalten unserer Mitmenschen verstehen, dass uns zumindest nicht schadet und auf das wir unser eigenes Handeln ausrichten, dann wird Vertrauen erst dort relevant, wo es auch zu Interaktionen kommt. Vertrauen ist also eine grundsätzlich praktische Angelegenheit. Optimistische Erwartungen sind dann in der Regel geprägt von zurückliegenden Erfahrungen aber auch durch institutionalisierte Normen und Beziehungen. Wir vertrauen langjährigen Partnern aufgrund der bisherigen erfolgreichen Kooperation, aber auch Personen – der Ärztin, dem Lehrer, der Pastorin, dem Automechaniker – aufgrund der ihnen zugesprochenen Eigenschaften.

Zusammen mit Ihrem Kooperationspartner European Alternatives erforschen Sie, wie es um das transnationale Vertrauen und Misstrauen untereinander, in anderen Mitgliedsstaaten und in EU-Institutionen bestellt ist. Welche Ziele verfolgen Sie, Herr Professor Lahusen?

Professor Dr. Christian Lahusen

Professor Dr. Christian Lahusen, Professor für Vergleichende Kultursoziologie und Politische Soziologie Europas an der Universität Siegen

Universität Siegen

Christian Lahusen: Uns interessiert sehr grundlegend, wie überhaupt transnationale Vertrauensbeziehungen zwischen den Bürger/innen Europas entstehen und was sie ausmacht. Für die meisten Menschen sind Kontakte nach Spanien oder Dänemark nicht alltäglich, dennoch haben sie natürlich Vorstellungen und auch positive Vorannahmen wie negative Vorurteile. Die Frage ist, welche Bedeutung diese Vorstellungen haben. Gleichzeitig dürften die Vertrauensbeziehungen zwischen Menschen unterschiedlicher Mitgliedsstaaten auch von den Erfahrungen abhängig sein, die sie innerhalb der Europäischen Union machen, also mit den Problemen und Konflikten, die zwischen den Mitgliedern der EU bestehen. Und den Lösungen und Lösungswegen, die gefunden werden.

Sie haben sich Großes vorgenommen – wie gehen Sie dabei vor?

Johannes Kiess: In unserem Teilprojekt führen wir Interviews mit Bürger/innen in Deutschland, Italien und Polen. Die dabei entstehenden Schilderungen und Erzählungen helfen uns, die Vorstellungen der Befragten über ihre europäischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, über die Politik in anderen Ländern, über Europa und die Europäische Union zu verstehen. In einem zweiten Schritt überprüfen und vertiefen wir diese Ergebnisse in Gruppendiskussionen. Von der Auswertung der offenen Gespräche zwischen den beteiligten Personen erhoffen wir uns, die in den drei Ländern kollektiv geteilten Deutungen herausarbeiten zu können.

Gibt es schon erste Ergebnisse?

Johannes Kiess: Die Auswertung der Interviews hat gerade erst begonnen. Uns fällt aber bereits auf, dass eine positive Erzählung zu Europa weit verbreitet ist, die Europa mit Demokratie, Reisefreiheit und Frieden verbindet. Die Frage des Vertrauens stellt sich für viel der Befragten nicht explizit, da es entweder wenige Berührungspunkte zu anderen Ländern im Alltag der meisten Menschen gibt, oder das Zusammenleben wird als Teil dieses Alltags nicht weiter reflektiert und damit als grundlegend ‚vertrauensvoll‘ empfunden. Insofern bleibt transnationales Vertrauen abstrakt. Einerseits wird Vertrauen dort relevanter, wo es hinsichtlich politischer, historischer, touristischer und wirtschaftlicher Beziehungen mehr Kontakte zwischen Ländern gibt, weshalb für Italien das Vertrauen in Polen abstrakter bleibt als das zu Deutschen. Andererseits aber wird die Frage des Vertrauens immer dann innerhalb Europas zu einem für die Befragten relevanten Thema, wo es gemeinsame Probleme zu bewältigen gilt (Krieg und Frieden, wirtschaftliche Zusammenarbeit, finanzielle Solidarität).

Herr Prof. Lahusen, Sie leiten zudem das EU-Projekt EnTrust – Enlightened Trust in Governance. Wie sieht die Zusammenarbeit aus?

Christian Lahusen: Das EU-Projekt zielt in erster Linie auf politisches Vertrauen, also Vertrauen in Politik, Institutionen und Kooperation in Europa. Das Projekt SoVE (Soziales Vertrauen als Voraussetzung für gesellschaftlichen Zusammenhalt in Europa) soll für eine Unterfütterung sorgen hinsichtlich der Frage nach dem Vertrauen zwischen den Bürger/innen. Dazu tauschen wir uns regelmäßig aus, besprechen Erhebungsmethoden genauso wie erste Ergebnisse und versuchen, diese in gemeinsame Publikationen einfließen zu lassen.

Und noch eine Frage mit Blick auf die Zukunft: Was meinen Sie, wie es angesichts aktueller Krisen um den Zusammenhalt in der EU bestellt ist? Was ist zu tun?

Christian Lahusen: Solange alles gut läuft, stellt sich die Frage nach transnationalem Vertrauen und Zusammenhalt weder für die Politik noch für die Menschen in irgendeiner Dringlichkeit. Wir beobachten, dass die Befragten gerade angesichts der gegenwärtigen Krisen Stabilität einen sehr großen Wert beimessen. Auf der politischen Ebene ist eine lösungsorientierte und nachhaltige Politik auch deshalb vertrauensfördernd. Gerade die Frage nach dem Vertrauen wird nun als etwas Dringliches wahrgenommen, weshalb dies auch eine Zeit ist, in der sich zwischenstaatliches Vertrauen bewähren und gestärkt werden kann. Die Bereitschaft dazu jedenfalls scheint vorzuliegen, denn den Menschen sind positive transnationale Erfahrungen für ein Zusammenleben in Europa sehr wichtig.

Das Interview erfolgte schriftlich am 27.September 2022

Förderlinie „Zusammenhalt in Europa“

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert das Verbundprojekt "SoVE" (Soziales Vertrauen als Voraussetzung für gesellschaftlichen Zusammenhalt in Europa) in der Förderlinie „Zusammenhalt in Europa“. Die mit insgesamt 12 Millionen Euro geförderten Einzel- und Verbundvorhaben aus den Geistes- und Sozialwissenschaften untersuchen während einer dreijährigen Projektlaufzeit den Zusammenhalt in der Europäischen Union (EU) aus interdisziplinärer Perspektive.
Forschung zu Zusammenhalt in Europa

Das BMBF-Verbundprojekt SoVE – Soziales Vertrauen als Voraussetzung für gesellschaftlichen Zusammenhalt in Europa


Das SoVE-Projekt erforscht die Vertrauensbeziehungen zwischen den europäischen Bevölkerungen, da diese tiefere Einblicke in die Voraussetzungen, Formen und Grenzen des europäischen Zusammenhalts eröffnen und eine Erforschung dieses Themas Möglichkeiten der Stärkung dieser Vertrauensbeziehungen aufzeigen kann.

Koordinator: Professor Dr. Christian Lahusen, Professor für Vergleichende Kultursoziologie und Politische Soziologie Europas an der Universität Siegen

Kooperationspartner:

Universität Siegen – Philosophische Fakultät – Seminar für Sozialwissenschaften – Lehrstuhl für Vergleichende Kultursoziologie und politische Soziologie Europas

Berliner Büro von European Alternatives Berlin e.V.

Projektlaufzeit: 01.02.2021 bis 31.01.2024