Doppelinterview zum Thema Islam und Judentum in Corona-Zeiten mit Prof. Khorchide und Prof. Homolka
Es diskutieren: Prof. Dr. Mouhanad Khorchide, Islamischer Theologe an der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster und Rabbiner Prof. Walter Homolka, Direktor der School of Jewish Theology an der Universität Potsdam.
Bitte beachten Sie, dass hier lediglich die Meinung der Interviewten wiedergegeben wird.
In Krisenzeiten suchen Menschen Zusammenhalt und Zuspruch in der Religion. Wie sich die Covid-19-Pandemie auf die Religionsausübung auswirkt, ist ein großes Thema der Kleinen Fächer Islamische Theologie und Jüdische Theologie: Darüber sprechen Mouhanad Khorchide, Leiter des Zentrums für Islamische Theologie und Professor der Islamischen Religionspädagogik an WWU Münster und Rabbiner Prof. Walter Homolka, Direktor der School of Jewish Theology an der Universität Potsdam.
Herr Khorchide, öffentliche religiöse Zusammenkünfte sind aufgrund der Corona-Pandemie eingeschränkt. Was bedeutet das für gläubige Muslime und Religionsgemeinschaften?
Khorchide: Eine von dem Soziologen Detlef Pollack im Jahre 2016 durchgeführte repräsentative Studie zeigt, dass etwa ein Drittel der Muslime der ersten Zuwanderergeneration in Deutschland mindestens einmal in der Woche die Moschee besuchen, der Rest weniger oder gar nicht. Bei Angehörigen der zweiten und dritten Generation sind es sogar nur 23 Prozent. Religiosität scheint sich demnach im islamischen Kontext stark von der institutionalisierten Bindung loszulösen. Die Einschränkung religiöser Zusammenkünfte wegen der Corona-Pandemie kann zur Beschleunigung dieses Prozesses und zur stärkeren Individualisierung der Religion beitragen. Jetzt schon beklagen viele Moscheegemeinden existenzielle Ängste wegen ausgebliebener Spenden.
Herr Rabbiner, wie sehen Sie das in Bezug auf den jüdischen Kontext? Speziell im Zuge der Corona-Krise?
Rabbiner Homolka: Das Judentum ist letztlich eine Schicksalsgemeinschaft. Das stärkt den Zusammenhalt und die institutionelle Bindung sowohl in den jüdischen Gemeinden wie auch in den weiter wachsenden zivilgesellschaftlichen Einrichtungen. Es werden viele digitale Angebote gemacht, die rege angenommen werden: Nicht nur Gottesdienste werden weltweit übertragen, auch Chats, Diskussionen, Vorträge… Dabei bemerke ich, dass diese Begegnungen im Internet durchaus stimulierende Wirkung entfalten. Mehr Menschen nutzen die Gelegenheit, miteinander im Netz zu beten, zu lernen und sich auszutauschen. Dabei bleibt richtig: Die persönliche Begegnung ist wesentlich. Deshalb ist begrüßenswert, dass etwa Beerdigungen wieder ohne Teilnehmerbeschränkung stattfinden können.
Ist es nicht ohnehin seit Jahren so, dass viele ihre spirituelle, religiöse Erbauung online beziehen?
Khorchide: Vor der Corona-Pandemie waren es hauptsächlich Salafisten, die von den Online-Plattformen Gebrauch gemacht haben, um mit ihren eher menschenfeindlichen Angeboten möglichst viele Jugendliche zu erreichen. Das aktuelle Herunterfahren von Moscheen führte aber dazu, dass vermehrt Predigten von gemäßigten bis liberalen Moscheen online gestellt werden. Aber auch diese Form der religiösen Angebote stärkt die Individualisierung der religiösen Praxis, da es dennoch an sozialen Zusammenkünften fehlt.
Rabbiner Homolka: Erst durch die aktuellen Umstände gab es einen richtigen Schub für Online-Angebote. Ich glaube, dass damit auf Dauer eine weitere Säule internationalen Zusammenwachsens entstanden ist. Es ersetzt aber den persönlichen Umgang nicht.
Mit Blick in die Zukunft: Halten Sie die Corona-Krise für einen Brandbeschleuniger für religiöse Konflikte?
Khorchide: Im Gegenteil, ich denke, die Krise hat die Religionen in mehrfacher Hinsicht einander nähergebracht: Erstens wurde zu gemeinsamen Gebeten gerufen, wie der Aufruf, den 14. Mai zum Tag des Gebets für die Menschheit zu erklären. Ich kenne sehr viele muslimische Institutionen in der islamischen Welt, die hier mitgemacht haben. Zweitens: Die Frage nach dem Bösen in der Welt stellt eine große Herausforderung für die Religionen gleichermaßen dar, denn alte Groß-Erzählungen von der Strafe Gottes werden kaum mehr von den Gläubigen angenommen. Jetzt sehen sich gerade die monotheistischen Religionen herausgefordert, nach gemeinsamen überzeugenden Antworten zu suchen. Drittens: Alle Religionen sind von dem Herunterfahren religiöser Zusammenkünfte gleichermaßen betroffen, das heißt, es geht jetzt nicht um ein Konkurrenzverhältnis zwischen den Religionen, sondern vielmehr um Solidarität unter ihnen, um gemeinsame Herausforderungen bewältigen zu können und plausible Antworten sowie Alternativangebote für die Gläubigen zu finden.
Corona führt zur mehr Solidarität unter Gläubigen. Wie ist Ihre Einschätzung, Herr Rabbiner?
Rabbiner Homolka: Vor allem hat Corona die jüdische Welt zusammenwachsen lassen – über Ländergrenzen hinweg ist ein großer und vielstimmiger Raum für jüdische Anliegen entstanden. Das schließt mehr Solidarität mit anderen Religionen nicht aus. Wichtig ist dabei eine gemeinsame Front gegen Verschwörungstheorien.
Zur Person: Rabbiner Prof. Dr. Walter Homolka
Rabbiner Prof. Dr. Walter Homolka, Rektor Abraham Geiger Kollegs, des ersten Rabbinerseminars in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, und Direktor der School of Jewish Theology an der Universität Potsdam. Er spricht sich für den Dialog zwischen den Religionen, aber auch mit der Gesellschaft aus.
Zur Person: Prof. Dr. Mouhanad Khorchide
Seit 2010 lehrt und forscht Prof. Mouhanad Khorchide Islamische Religionspädagogik an der Universität Münster, dort leitet er das vom BMBF geförderte „Zentrum für Islamische Theologie“ und ist Projektleiter am Exzellenzcluster „Religion und Politik“. Sein besonderes Anliegen ist es, im religiösen Dialog und im Alltag der Religionspolitik eine unabhängige Stimme zu geben.
Weitere Informationen:
Das Kleine Fach Jüdische Theologie
Auf dem Portal Kleine Fächer der Johannes Gutenberg-Universität Mainz ist ein Beitrag zur Jüdischen Theologie veröffentlicht von Rabbiner Prof. Walter Homolka, Geschäftsführender Direktor der School of Jewish Theology. Zum Blog-Beitrag auf kleinefaecher.de
School of Jewish Theology
Seit seiner Gründung 1999 arbeitet das Abraham Geiger Kolleg für die wissenschaftliche Ausbildung der Rabbiner eng mit der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam zusammen, 2001 wurde es zum An-Institut der Hochschule. Mit der Eröffnung der School of Jewish Theology im November 2013 wurde dann erstmals eine jüdisch-theologische Einrichtung an einer deutschen Universität – der Universität Potsdam – eingerichtet. Ein Jahr später nahm Rabbiner Homolka den Ruf als Professor für Jüdische Religionsphilosophie der Neuzeit (mit dem Schwerpunkt Jüdische Denomination und Interreligiöser Dialog) in Potsdam an. Quelle: Auszug Medieninformation 02-10-2018 / Nr. 150, Uni Potsdam
Die Kleinen Fächer Islamische Theologie und Islamwissenschaften
Islamische Theologie gehört der geisteswissenschaftlichen Fachgruppe der Philosophie und Theologien an. Islamische Theologie wird derzeit in Deutschland an sieben Universitätsstandorten angeboten, siehe Islamische Theologie auf kleinefaecher.de
Die Islamwissenschaft zählt zu der geisteswissenschaftlichen Fachgruppe der außereuropäischen Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften und besitzt gegenwärtig in Deutschland 20 Universitätsstandorte. Mehr dazu im Blog-Beitrag auf kleinefaecher.de
Der Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der WWU Münster
Der Exzellenzcluster „Religion und Politik. Dynamiken von Tradition und Innovation“ der Universität Münster untersucht seit 2007 das komplexe Verhältnis von Religion und Politik quer durch die Epochen und Kulturen. Die 140 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 20 geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern und 10 Ländern befassen sich in der Förderphase von 2019 bis 2025 besonders mit „Dynamiken von Tradition und Innovation“. In epochenübergreifenden Untersuchungen von der Antike bis heute analysieren sie Faktoren, die Religion zum Motor politischen und gesellschaftlichen Wandels machen Der Forschungsverbund ist der bundesweit größte dieser Art und unter den Exzellenzclustern in Deutschland einer der ältesten und der einzige zum Thema Religion. Das Fördervolumen von 2019 bis 2025 liegt bei 31 Millionen Euro.
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