Transnationale Studie zu Ungleichheit in Pandemie-Zeiten: Berlin, Buenos Aires, Mexiko-Stadt und São Paulo im Fokus

Üblicherweise erforscht das Maria Sibylla Merian Centre Conviviality-Inequality in Latin America (Mecila) vergangene und gegenwärtige Formen des sozialen, politischen und kulturellen Zusammenlebens in Lateinamerika und der Karibik. Das Forschungsprojekt „Konvivialität-Ungleichheit in Pandemie-Zeiten: Berlin, Buenos Aires, Mexiko-Stadt und São Paulo“ geht darüber hinaus. Hier die ersten Ergebnisse.

Im Interview: Dr. Mariana Teixeira, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZI Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin und am Maria Sibylla Merian Centre Conviviality-Inequality in Latin America

Dr. Mariana Teixeira beim Mecila Kick-Off Workshop am Cebrap, São Paulo

Dr. Mariana Teixeira, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZI Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin und am Maria Sibylla Merian Centre Conviviality-Inequality in Latin America. 

Ricson Onodera

Frau Dr. Teixeira, unlängst haben Sie mit Ihrer Studie Ungleichheit in Pandemie-Zeiten untersucht. Könnten Sie zunächst bitte kurz erklären, was es mit Verhältnis von Zusammenleben (Konvivialität) und Ungleichheit auf sich hat?

Unsere Untersuchung beschäftigt sich mit der Frage, wie sich das Verhältnis zwischen Zusammenleben und sozialen Ungleichheiten während der Pandemie verschiebt. Bei unserem Mecila-Forschungsprogramm gehen wir davon aus, dass sich das gesellschaftliche Zusammenleben (conviviality) und die existierenden sozialen Ungleichheiten gegenseitig bedingen. Das heißt: Die sozialen Ungleichheiten prägen zwar das Zusammenleben, sie werden aber erst im gesellschaftlichen Miteinander gedeutet, ausgehandelt und ggf. transformiert.

Wo und wie haben Sie die Befragung durchgeführt?

Für unsere Studie haben wir eine repräsentative Befragung in vier Städten durchgeführt, in Berlin, Buenos Aires, Mexiko-Stadt und São Paulo, also dort, wo unsere Partnerorganisationen sind. Dabei haben wir erwachsene Personen in jeweils ca. 2.500 Haushalten telefonisch interviewt. In einigen Fällen wurden zusätzlich Fokusgruppen eingesetzt, um die Auswirkungen der Pandemie in einigen spezifischen Bevölkerungssegmenten qualitativ auszuwerten.

Hat die Corona-Pandemie nach Ihren Erkenntnissen die sozialen Ungleichheiten überall gleich vertieft?

Unsere Befunde bestätigten vorhandene Studien, die allgemein eine Vertiefung der sozialen Ungleichheiten im weiteren Sinne – also nicht nur soziökonomische Ungleichheiten sondern auch vitale (bezüglich Gesundheit, Lebenserwartung, etc.) und existentielle (bezüglich der Umsetzung der eigenen Lebensvorstellungen) Ungleichheiten – während der Pandemie feststellen. Viele Herausforderungen des Zusammenlebens, die sonst ausgelagert werden (an Schulen, Kitas, Arbeitsplätze, etc.), mussten während der Pandemie innerhalb der Familien, also des Haushalts, gelöst werden. Die Kosten dieser Verlagerung wurden extrem ungleich zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen verteilt. Unsere detailreichen Befragungen, unser Fokus auf das Verhältnis zwischen Zusammenleben und Ungleichheiten sowie die Möglichkeit des Vergleichs von vier Städten, in denen die Pandemie unterschiedliche Verläufe nahm, ermöglichten uns, Schlussfolgerungen zu ziehen, die in den bisherigen Studien nicht enthalten sind.

Das hört sich spannend an. Wie unterscheiden sich die Ergebnisse in den vier Städten?

Die Auswirkung der Pandemie auf soziale Ungleichheiten variiert in erheblichem Ausmaß – je nach Art von Ungleichheiten, Verfasstheit des jeweiligen Wohlfahrtssystems und der eingesetzten Maßnahmen. Konnten zum Beispiel die staatlichen Hilfsprogramme in Berlin nach der Wahrnehmung der Befragten Einkommensausfälle für alle Schichten und damit die Vertiefung der Einkommensungleichheiten teilweise eindämmen, so sahen die Befragten diese Ungleichheiten in Mexiko-Stadt erheblich wachsen und in São Paulo sowie in Buenos Aires moderat steigen.

Was sind Ihre Thesen zu geschlechtsspezifischen Ungleichheiten?

In der Verteilung der Kinderbetreuung und der Hausarbeit (Versorgungsarbeiten) unterscheiden sich die vier Städte wenig. In allen sozialen Schichten sehen männliche und insbesondere weibliche Befragte dabei eine Benachteiligung der Frauen. Daraus folgt, dass in allen vier Städten Familien mit Kindern, und darin die Frauen, den höchsten „Preis“ zahlten: In den entsprechenden Haushalten waren die Infektionsraten mit dem Corona-Virus nach der Information der Befragten höher als in kinderlosen Haushalten. Und die zusätzliche Arbeit, die unter anderem durch Homeschooling, Ausfall von Kinderbetreuungstagestätten entstanden ist, wurde in der Regel von den weiblichen Mitgliedern des Haushalts übernommen.

Laut diesen Befunden zahlten also Familien den höchsten Preis für die Pandemie. Haben Sie  geschlechtsspezifische Belastungen in den Familien näher untersucht?

Ja, im Fall von Berlin konnte unsere Studie Befunde vorhandener Studien präzisieren, aber auch neue Erkenntnisse einbringen: Die Annahme, dass das deutsche Wohlfahrtsmodell geschlechtsspezifische Ungleichheiten insbesondere in der Verteilung der unbezahlten Versorgungsarbeiten reproduziert, wird von unseren Ergebnissen stark untermauert. Grund dafür ist die zentrale Versorgungsrolle, die den Familien im deutschen System – im Gegensatz etwa zum skandinavischen Modell – zugeschrieben wird. Während der Pandemie, aufgrund der zeitweise fehlenden Möglichkeit der Auslagerung der Versorgungsarbeiten wie zum Beispiel an Schulen, Kitas, etc., hat sich dieses Manko im deutschen Wohlfahrtsmodell zugespitzt.

Über diese allgemeinen Tendenzen hinaus gibt es noch eine Besonderheit: Die Benachteiligung der Frauen in der Verteilung der Versorgungsarbeit ist ausgeprägter im westlichen Teil Berlins als im Ostteil der Metropole. Insbesondere in den Haushalten, in denen Frauen vollbeschäftigt sind, verbesserte sich nach der Wahrnehmung der Befragten die geschlechtsspezifische Aufteilung der Versorgungsarbeit während der Pandemie. In diesen Fällen führen die mit der Pandemie zusammenhängenden Problemlagen zu einer Neuaushandlung des Zusammenlebens innerhalb des Haushalts und zu einer Verringerung dieser spezifischen Form der Gender-Ungleichheiten.

Und wann werden die Studienergebnisse veröffentlicht?

Die Ergebnisse der Untersuchung erscheinen in Bälde zunächst in der Mecila Working Paper Reihe und später in Fachzeitschriften. Nach dem 1. Januar 2024 werden die einzelnen Ergebnisse der Befragungen in den vier Städten für die freie Nutzung und weitere Auswertungen durch andere Forschende öffentlich zur Verfügung gestellt. 

Herzlichen Dank für Ihre interessanten Einblicke in die Studie, Frau Dr. Teixeira!

(Das Interview erfolgte schriftlich am 27. März 2023, Fragen: Katrin Schlotter)

MECILA

Das Maria Sibylla Merian Centre Conviviality-Inequality in Latin America (Mecila) ist eines von fünf internationalen Forschungskollegs in den Geistes- und Sozialwissenschaften im Ausland, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert werden.

Im Fokus der Forschung Mecilas stehen vergangene und gegenwärtige Formen des sozialen, politischen und kulturellen Zusammenlebens in Lateinamerika und der Karibik. Conviviality dient dabei als zentrales analytisches Konzept zur Untersuchung von unterschiedlichen Formen des Zusammenlebens in spezifischen Kontexten, die sowohl durch Diversität als auch durch Ungleichheit gekennzeichnet sind.

Das Mecila-Konsortium setzt sich zusammen aus drei deutschen Institutionen (Freie Universität Berlin (Koordination), die Universität zu Köln und das Ibero-Amerikanische Institut (Stiftung Preußischer Kulturbesitz)) und vier lateinamerikanischen Institutionen (Universidade de São Paulo, das Centro Brasileiro de Análise e Planejamento, das El Colegio de México und das Instituto de Investigaciones en Humanidades y Ciencias Sociales (Conicet / Universidad Nacional de La Plata)).

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