Mecila: Beiträge zu 200 Jahre deutsche Einwanderung nach Brasilien

In 2024 feiert die deutsche Einwanderung nach Brasilien ihr 200. Jubiläum – ein guter Grund für das Merian Center Mecila, sie ins Zentrum der Forschung und einiger Aktivitäten zu rücken.

Im Interview: Sérgio Costa, Professor für Soziologie an der FU Berlin und Sprecher von Mecila, und Susanne Klengel, Professorin für Literaturen und Kulturen Lateinamerikas an der FU Berlin und Ko-Direktorin von Mecila.

Mecila erforscht vergangene und gegenwärtige Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens in Europa und Lateinamerika. Welche Rolle spielt die deutsche Einwanderung nach Brasilien?

Portraitbild Sérgio Costa

Sérgio Costa, Professor für Soziologie Lateinamerikas am Institut für Soziologie und am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin und Sprecher von Mecila.

José Marçal, Berlin

Mecila untersucht das Verhältnis zwischen Zusammenleben bzw. Miteinander und sozialen Ungleichheiten. Die deutsche Einwanderung nach Brasilien, die dieses Jahr ihr 200. Jubiläum feiert, ist ein ausgezeichnetes Feld, diese Fragestellung zu veranschaulichen. Denn die Deutschen, die in unterschiedlichen historischen Phasen nach Brasilien kamen, waren in sozialer, kultureller und politischer Hinsicht sehr heterogen. Sie reichen von bedürftigen Bauern, die während des 19. Jahrhunderts vor Kriegen und Hungersnöten flohen, bis hin zu wohlhabenden Geschäftsleuten, die die deutschen Konzerne in Brasilien noch heute leiten. Während des Dritten Reichs wurde Brasilien zu einem wichtigen Zufluchtsort für jüdische Familien und politisch Verfolgte aus Deutschland. Aber auch Nationalsozialisten fanden, unter falschem Namen, in Brasilien nach dem Zweiten Weltkrieg Zuflucht. Damit ergeben sich äußerst verschiedenartige Räume des Zusammenlebens, die wir nach unserer Begrifflichkeit als unterschiedliche „konviviale Konfigurationen“ bezeichnen. Richtet man etwa das Augenmerk auf Landgebiete insbesondere in den Bundestaaten Santa Catarina und Rio Grande do Sul, so beobachtet man ethnisch relativ homogene Gemeinschaften, in denen bis heute noch vornehmlich Deutsch in unterschiedlichen Variationen gesprochen wird, einschließlich solcher, die in Deutschland schon ausgestorben sind. Schaut man dagegen auf die Städte, so ist die deutsche Präsenz eher in Form von zahlreichen mittelständischen Unternehmen im Süden Brasiliens oder von Großkonzernen wie Siemens und Bayer in den Bundesstaaten Rio de Janeiro und São Paulo sichtbar.

Welche Aktivitäten hat Mecila zum 200. Jubiläum ausgerichtet?

Portraitbild Susanne Klengel

Susanne Klengel, Professorin für Literaturen und Kulturen Lateinamerikas an der FU Berlin und Ko-Direktorin von Mecila

Christian Demarco

Das Verhältnis zwischen Brasilien und Deutschland und die damit einhergehende Rolle der deutschen Einwanderung werden in Veranstaltungen und Publikationen von Mecila immer wieder thematisiert. Aufgrund des Jubiläums rückte die deutsche Einwanderung in diesem Jahr ins Zentrum einiger Aktivitäten. Besondere Erwähnung verdienen der Workshop „Menschen, Gegenstände und Ideen in Zirkulation: transregionale Verflechtungen zwischen Brasilien und Deutschland“, welcher in São Paulo in Zusammenarbeit mit der Universität São Paulo und dem dortigen Museum für Archäologie und Ethnologie im letzten März stattfand sowie das Panel über den Literaturwissenschaftler Anatol Rosenfeld mit dem Titel „Anatol Rosenfeld: Mediation and Translation between Brazil and Germany, welches als Online-Veranstaltung mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern in Berlin und São Paulo im Mai stattfand.

In unserem im Oktober 2024 stattfindenden Annual Meeting und im daran anschließenden internationalen Workshop Care that Matters, Matters of Care, der zum Rahmenprogramm der brasilianischen Präsidentschaft der G20 zählt, steht das Jubiläum der deutschen Einwanderung hingegen nicht im Mittelpunkt.

Wie kann Mecila zu einem besseren Verständnis und Umgang mit dem Thema Einwanderung beitragen?

Modelle des Zusammenlebens lassen sich bekanntlich nicht zwischen verschiedenen Zeiten und Orten übertragen. Dennoch zeigt unsere Forschung, dass wir aus der deutschen Einwanderungsgeschichte in Brasilien Lehren ziehen können, um aktuelle Debatten über Flucht und Migration in Europa besser zu begreifen. Erstens macht die deutsch-brasilianische Einwanderungsgeschichte die humanitäre, aber auch die kulturelle Bedeutung von Asyl besonders deutlich. Biographien wie die des deutsch-jüdischen Intellektuellen Anatol Rosenfeld zeigen, dass auch Menschen, die im Exil leben – in Rosenfelds Fall sogar eine Zeitlang ohne Papiere –, herausragende Beiträge zur kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklung eines Landes leisten können. Eine weitere Lehre lässt sich in Bezug auf die negativen Folgen erzwungener Integrations- und Assimilationspolitiken ziehen: Während des Zweiten Weltkrieges wurden deutsche Vereine und deutschsprachige Zeitungen in Brasilien im Rahmen einer so genannten Nationalisierungskampagne verboten. Auch die Verwendung der deutschen Sprache im Alltag wurde untersagt. Die erzwungene „Brasilianisierung“ verursachte tiefes soziales Leid und führte bei der deutschsprachigen Minderheit am Ende nicht zu mehr Loyalität, sondern im Gegenteil zu Misstrauen und Skepsis gegenüber dem brasilianischen Staat. Zum Glück verfehlte diese Kampagne ihr Hauptziel, die deutsche Sprache aus der Lebenswelt der deutschen Einwanderinnen und Einwanderer und ihrer Nachfahren auszulöschen. Heute bedauern viele Brasilianerinnen und Brasilianer, dass die deutsche und andere Minderheitssprachen durch zweisprachige Schulen und andere einschlägige Maßnahmen historisch nicht gefördert wurden. Denn Mehrsprachigkeit wird im heutigen Brasilien als ein entscheidender Faktor für ökonomische Entwicklung und ein faires interkulturelles Miteinander gesehen.

Herzlichen Dank Ihnen beiden für das interessante Interview!

(Das Interview erfolgte schriftlich am 27. September 2024. Fragen: Katrin Schlotter)

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