Buchvorstellung: Alternative Fakten als diskursive Nebelkerzen?
Was ist wahr, was falsch? Und worum geht es bei Fake News wirklich? Der Soziologe und Autor Dr. Nils C. Kumkar hat dazu gute Antworten - nicht nur in seinem Buch „Alternative Fakten. Zur Praxis der kommunikativen Erkenntnisverweigerung“.
Herr Dr. Kumkar, Sie forschen am SOCIUM der Universität Bremen zu sozialer Ungleichheit und zu politischem Protest. Was hat Sie veranlasst, neben wissenschaftlichen Publikationen ein Buch über alternative Fakten zu schreiben?
Ausgangspunkt war die Forschung zu alternativen Fakten Social Media Diskursen, die ich gemeinsam mit Hannah Trautmann im Rahmen eines von der Otto Brenner Stiftung finanzierten Projekts 2020/21 durchgeführt habe. Damals war uns aufgefallen, dass die Art und Weise, wie auf Facebook zum Beispiel die Bedrohung durch das Corona-Virus relativiert wurde, überhaupt nicht zu dem passte, wie in den Medien über Desinformationen zum Corona-Virus berichtet wurde: Weder schien es, als ob die Leute, die sich an diesen Diskussionen beteiligten, besonders viel Wert darauf legten, dass ihre Version der Geschichte stimmt, noch gab es Anzeichen, dass sie die gemeinhin akzeptierte Version nicht kennen würden. Dass die Leute nicht wüssten, was der Stand der Forschung war, konnte man also genauso wenig konstatieren, wie es plausibel schien, dass sie stattdessen an etwas anderes glauben. Und da sich das immer weiter erhärtete, je mehr ich mich mit alternativen Fakten befasste, schien es mir wichtig, das mal systematisch für eine Öffentlichkeit aufzubereiten, die sich ja in den letzten Jahren selbst in einer „Wahrheitskrise“ wähnt, die in diesem Licht aber anders bewertet werden müsste.
Fake News sind in aller Munde - was sind aus Ihrer Sicht „alternative Fakten“ und wie entstehen sie?
„Alternative Fakten“ sind aus meiner Perspektive in erster Linie eine kommunikative Form – das heißt, eine bestimmte Art und Weise, sich in die Kommunikation einzubringen, sich zu gesellschaftlich eigentlich als bekannt vorausgesetzten Fakten ins Verhältnis zu setzen. Nicht, indem man eine andere Version an die Stelle der bekannten setzt und diese gegebenenfalls gegen Widerspruch verteidigt, sondern indem man alles herbeischafft, was dagegensprechen könnte. Man arbeitet also nicht an einer schärferen oder veränderten Sicht auf die Realität, sondern verunklart einen Punkt für den Moment – deswegen habe ich ja auch von diskursiven Nebelkerzen gesprochen, oder eben von kommunikativer Erkenntnisverweigerung. Die alternativen Fakten erlauben für den Moment, sich um die Anerkennung eines unbequemen Teils der Realität herumzudrücken.
Wie wirken sich „diskursive Nebelkerzen“ im Kontext polarisierter Debatten aus? Hätten Sie ein Beispiel?
Alternative Fakten brauchen zugespitzten politischen Konflikt, um überhaupt zum Tragen zu kommen: Denn nur hier besteht ja überhaupt das Interesse, bestimmten Realitätsaspekten auszuweichen – wenn nämlich die Anerkennung dieser Realität bedeuten würde, auch die Notwendigkeit von Entscheidungen in Bezug auf diese Realität anzuerkennen. Die Wirkung besteht dann darin, dass gerade dadurch, dass auch die Gegenseite alternative Fakten als Tatsachenbehauptungen ernstnimmt, sie also zu widerlegen sucht, die Kommunikation als ganze zaudert: Statt über die Entscheidung zu sprechen, spricht man über die Entscheidungsgrundlage. Statt über das Problem in der Realität zu sprechen, spricht man über das vermeintliche Problem mit der Realität. So haben alternative Fakten zum menschengemachten Klimawandel in den vergangenen Jahrzehnten dazu geführt, dass viel Energie in der öffentlichen Auseinandersetzung in die Frage floss, wie man vermeintliche Klimawandelskeptiker von der Realität des Klimawandels überzeugen könnte. Und auch während der Corona-Pandemie wurde oft viel mehr davon gesprochen, wie man die Menschen von der Bedrohung durch das Virus überzeugen könnte – und weniger darüber, welche der ja ganz unterschiedlichen Maßnahmen zu seiner Bekämpfung eigentlich warum politisch wünschenswert oder durchsetzungsfähig wären.
Was ist Ihrer Meinung nach zu tun, damit alternative Fakten keinen furchtbaren Boden finden?
Das ist schwierig. Man kann ja aus gutem Grund den Leuten schlecht verbieten, Zweifel zu artikulieren. Wenn darüber hinaus ihre Funktion gar nicht so sehr daran hängt, ob sie jemand im engeren Sinne des Wortes „glaubt“ kommt man auch mit Aufklärung über den Stand der Wissenschaft nur begrenzt weiter. Schlimmer noch: wenn die Funktion alternativer Fakten ist, die Kommunikation zum Zaudern zu bringen, indem sie die Tatsachengrundlage politischer Konflikte problematisieren, dann spielt man dieses Spiel sogar mit, wenn man sich zu sehr auf ihre Widerlegung oder die Unterbindung ihrer Verbreitung kapriziert. Ich glaube aber, dass allein die Einsicht in diese Funktionsweise schon weiterhelfen kann: So kann man ja Greta Thunbergs mittlerweile zum geflügelten Wort gewordenen Ausspruch „listen to the science“ auch verstehen. Nicht, wie oft behauptet, als die Annahme, dass aus der Wissenschaft irgendeine politische Entscheidung sich direkt ableiten ließe, sondern als Aufdecken eines Bluffs: Tut doch nicht so, als ginge es euch um die Wissenschaft. Wenn ihr der zuhören würdet, wüsstet ihr längst, dass an der Notwendigkeit sich zu entscheiden und zu handeln kein sinnvoll begründbarer Zweifel mehr besteht.
Ihr Buch ist Ende September 2022 bei Suhrkamp erschienen. Wie ist die Resonanz?
Das Buch ist in Presse und Rundfunk sehr positiv besprochen worden, was mich natürlich freut. Noch mehr allerdings haben mich die Fragen aus dem Publikum bei diversen Buchvorstellungen begeistert – die waren zwar mitunter sehr kritisch, aber haben auch gezeigt, dass die Frage, was alternative Fakten eigentlich sind und vor allem welche Rolle es für ihr Funktionieren eigentlich spielt, ob Menschen sie „glauben“ eine Frage ist, die die Menschen umtreibt – viel mehr als die wissenschaftliche und massenmedialen Debatten das glauben lassen könnten, die ja oft einfach voraussetzen, dass es eben darum geht, dass alternative Fakten falsche Tatsachenbehauptungen sind und das Problem ist, dass Menschen sie glauben. Da gerade die Mühlen der Wissenschaft natürlich langsamer mahlen, freue ich mich schon darauf, dass die Auseinandersetzung darüber auch dort mehr Fahrt aufnimmt – und hoffe, auch dazu einen Beitrag leisten zu können.
Und noch eine letzte Frage: Was raten Sie Forschenden, die ihr Wissen in die breite Öffentlichkeit tragen wollen?
Einfach machen ist natürlich leicht gesagt. Aber ich glaube wirklich, dass die Öffentlichkeit auf wissenschaftliches Wissen zu den Themen, die sie umtreiben, viel offener und neugieriger reagiert, als Forschende sich das oft vorstellen. Und Journalistinnen und Journalisten suchen oft händeringend nach kompetenten Gesprächspartnerinnen und -partnern.
Herzlichen Dank, für das spannende Interview, Herr Dr. Kumkar!
(Das Interview erfolgte schriftlich am 20. April 2023, Fragen: Katrin Schlotter)
SOCIUM - Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik
Das SOCIUM - Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik ist bundesweit das einzige sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut, das Fragen von Ungleichheit, Sozialpolitik sowie deren gesellschaftliche und politische Wechselwirkungen empirisch wie theoretisch untersucht. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der fächerübergreifenden Forschung zu den sozialen, ökonomischen, politischen, kulturellen, organisatorischen, rechtlichen, historischen und sozial-medizinischen Bedingungen und Folgen sozialer Ungleichheit, staatlicher Sozialpolitik sowie deren Wechselwirkungen. Disziplinär getragen wird diese Forschung vor allem von Soziologie, Politik-, Gesundheits-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften. Das SOCIUM an der Universität Bremen ist zudem ein Teilinstitut des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ)
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