Die Europameisterschaft hat es gezeigt: Fußball verbindet. Wie genau der Sport die gemeinsame Identität und den sozialen Zusammenhalt in Europa stärkt, das fand das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Verbundprojekt FANZinE der Johannes Gutenberg-Universität Mainz heraus.
Im Interview: Projektleiter Univ.-Prof. Dr. Arne Niemann, seit Februar 2011 Professor für Internationale Politik, Institut für Politikwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Ihr FANZinE-Projekt hat analysiert, wie Fußball und fußballbezogene Aktivitäten zur Bildung europäischer Identitäten und zur Stärkung sozialer Bindungen beitragen. Was sind die Kernergebnisse?
Unsere Ergebnisse zeigen zunächst, dass der (Männer-Club-)Fußball in Europa tief in der Gesellschaft verankert ist. Zwischen 40% und 60 % der Bevölkerung können als Fußballfans gezählt werden, was das Fußballfan-Sein zu einem breiten gesellschaftlichen Phänomen macht.
Zweitens ist der Fußball medial enorm präsent, nahezu unausweichlich. Medien aus ganz Europa berichten regelmäßig und in sehr ähnlicher Weise über Fußball, was zu einer homogenen europäischen „Fußball-Medien-Sphäre“ führt. Diese ist jedoch auf wenige, elitäre Ligen, wie beispielsweise die in England, fokussiert, während kleinere Länder kaum vertreten sind.
Drittens konnten wir feststellen, dass Fußballfans in verschiedener Hinsicht stärkere europäische Identitäten ausbilden und inklusivere Einstellungen haben. Sie zeigen stärkere emotionale Bindungen zu Europa, befürworten die europäische Integration und die EU-Mitgliedschaft ihres Landes stärker und definieren die Zugehörigkeit zu Europa breiter. Außerdem sind sie positiver gegenüber Migration eingestellt und befürworten die Demokratie stärker. Schließlich haben wir gezeigt, dass der Fußball sozialen Kontakt, grenzüberschreitende Begegnungen und Kooperation zwischen Fans in Europa fördert. Diese vereinigenden Effekte des Fußballs stehen jedoch im Kontext einer starken Kommerzialisierung und hohen Exklusivität, die diese Effekte gefährden. Hier sehen wir dringenden Reformbedarf, um den Fußball als sozial verbindendes Phänomen zu bewahren.
Während der EURO 2024 haben Sie zudem die soziale Dynamik und Identitätsbildung in verschiedenen Fanzonen untersucht. Ist es tatsächlich so, dass diese Erlebnisse Verbindungen und Gemeinsamkeiten zwischen den europäischen Bürgern fördern?
Wir haben Fans in den Fanzonen in Köln und Frankfurt zu ihren politischen Einstellungen und ihren Erfahrungen in den Fanzonen befragt. Die Ergebnisse zeigen, dass diese Fanzonen Räume für vielfältige, friedliche, grenzüberschreitende und interkulturelle Begegnungen waren. Die Besucherinnen und Besucher der Fanzonen gaben eine enorm hohe emotionale Identifikation mit Europa an und führten dies auf die soziale Interaktion, die positive Stimmung und das entstehende Gemeinschaftsgefühl unter den Fans zurück. Diese Effekte sind in dieser Stärke vermutlich zunächst nur kurzfristig, dennoch lässt sich annehmen, dass diese Erfahrung bei vielen Besucherinnen und Besuchern auch langfristig zu einer positiveren Identifikation mit Europa beitragen kann.
Kann Fußball nicht auch spalten?
Leider gibt es im Fußball immer noch Probleme mit Gewalt und Diskriminierung, wie etwa Rassismus oder Sexismus. Zudem wird der Fußball immer wieder politisch instrumentalisiert und dient als Bühne für politische oder gesellschaftliche Konflikte. Es ist von enormer Bedeutung, dass Vereine und Verbände diese Probleme strukturell angehen, damit der Fußball inklusiv und offen für alle ist. Nur so können sich die vereinigenden Effekte des Fußballs in die gesamte Gesellschaft hinein entfalten. Wir plädieren insbesondere für eine demokratische Beteiligung der Fans an der Gestaltung des Fußballs.
Und welche Bedeutung haben die Fanzonen und wie sollten sie gestaltet sein?
Die Fanzonen zeigen, dass die friedliche Begegnung von Fans und das Teilen der Fußballbegeisterung dazu beitragen, gesellschaftliche Unterschiede und Stereotype zu überbrücken. Deshalb ist es wichtig, solche Begegnungsorte zu erhalten oder zu schaffen. Diese müssen leicht zugänglich und offen für alle Fußballinteressierten sein. Maßnahmen wie Betretungsverbote für Auswärtsfans und die starke Versicherheitlichung des Fußballs ersticken dagegen diese Begegnungsmöglichkeiten im Keim.
Welche gesellschaftliche Bedeutung hat der europäische Fußball durch die EURO 2024 und darüber hinaus?
Die EURO 2024 war besonders interessant, da sie nur eine Woche nach den Europawahlen begann, bei denen euroskeptische Kräfte starke Gewinne verzeichnen konnten. Die EURO hat jedoch gleich von Anfang an Bilder eines vereinten Europas geliefert. Auch wenn es einige unschöne Vorkommnisse gab, wie etwa nationalistische Rufe oder die Kontroverse um den „Wolfsgruß“ des türkischen Spielers Merih Demiral, war die EURO insgesamt ein europäisches Volksfest, bei dem viele Nationen zusammen gefeiert haben. Abseits der oft kontroversen politischen Dimension Europas können derartige kulturelle Phänomene viel zum Zusammenhalt Europas beitragen.
Was steht als nächstes Projekt an?
Gerne würden wir die Untersuchung der Fußball-Fankultur als Raum für politische Organisation, Meinungsbildung und Partizipation vertiefen. Unsere Ergebnisse und Ereignisse wie die Proteste von Fans gegen die Super League oder gegen Investoren in der Deutschen Fußball Liga haben gezeigt, welches Potenzial für politische Mobilisierung und kreative politische Beteiligung in der Fankultur steckt. Fans als politische Akteure in Zeiten von Demokratieunzufriedenheit sind ein faszinierendes Thema, das wir weiter erforschen möchten.
Herzlichen Dank für das interessante Interview, Herr Prof. Niemann!
(Das Interview erfolgte schriftlich am 16. August 2024, Fragen: Katrin Schlotter)
Forschungsprojekt Fußball als Grundlage gesellschaftlichen Zusammenhalts in Europa (FANZinE)
Unter der Leitung von Prof. Dr. Arne Niemann hat das FANZinE-Projekt der Johannes Gutenberg-Universität Mainz die Rolle des Fußballs für Identitäten und Zusammenhalt in Europa vergleichend in vier europäischen Ländern (Deutschland, Norwegen, Polen, Spanien) erforscht, in Kooperation mit Partnern aus der praktischen Fanarbeit. Dabei wurden mediale Diskurse, Einstellungen und Meinungen von Fans sowie Strukturen institutionalisierter Fanverbände untersucht.
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