Dubnow-Institut: Themenhefte zur jüdischen Alltagskultur für den Unterricht

Über religiöse Traditionen, die Vielfalt des jüdischen Lebens und die jüdische Alltagskultur ist recht wenig bekannt. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Verbundprojekt „Das Objekt zum Subjekt machen. Jüdische Alltagskultur in Deutschland vermitteln“ will diese Wissenslücken schließen.

Im Interview: Projektkoordinator PD Dr. Philipp Graf, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow (Leipzig).

Herr Dr. Graf, welche gesellschaftliche Relevanz messen Sie der Vermittlung von Wissen über jüdische Alltagskultur bei?

PD Dr. Philipp Graf

PD Dr. Philipp Graf ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow (Leipzig) und koordiniert dort das BMBF-Verbundvorhaben „Das Objekt zum Subjekt machen. Jüdische Alltagskultur in Deutschland vermitteln“.

privat

Judentum und Jüdischsein werden in Deutschland heute immer noch primär mit den Themen Verfolgung, Antisemitismus und Holocaust verbunden. Das hat einen Grund in fehlenden lebensweltlichen Begegnungen, aber auch in den nationalsozialistischen Verbrechen und ihrer Aufarbeitung. Diese Auseinandersetzung ist wichtig, wird aber der religiösen und kulturellen Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland nicht gerecht. Dem möchten wir entgegenwirken, indem unsere „Themenhefte für den Unterricht“, die wir zum Einsatz in der Schule aber auch in der Erwachsenenbildung erstellen, zum einen grundlegende Kenntnisse über das Judentum als Religion vermitteln. Solche sind elementar, weil sich an unverstandenen religiösen Praktiken häufig antisemitische Vorurteile entzünden. Wer dagegen gut Bescheid weiß, der ist vielleicht auch eine Spur resistenter gegenüber Antisemitismus – so zumindest unsere Hoffnung. Zum anderen ist das Bild jüdischen Lebens in der deutschen Öffentlichkeit verzerrt. Wenn man so will, ist es auf dem (seinerseits fragmentierten) Stand der 1980er Jahre stehengeblieben. Über zentrale Entwicklungen der letzten 30 Jahre etwa ist nur wenig bekannt. Insofern liegt in der Vermittlung eines zeitgemäßen Bildes jüdischen Lebens auch der Kern der gesellschaftlichen Relevanz: Nur wer über seinen Nachbarn und seine Befindlichkeiten Bescheid weiß, kann adäquat darauf reagieren, wenn dieser sich ‒ wie etwa die jüdische Gemeinschaft seit dem 7. Oktober 2023 in Deutschland – bedroht fühlt oder Unterstützung nötig hat.

Sie erforschen, inwieweit Materialien des Schulunterrichts, der politisch-historischen Bildung, aber auch populäre Geschichtsdarstellungen Fehlwahrnehmungen und Wissenslücken transportieren. Welche Erkenntnisse konnten Sie bislang gewinnen?

Die Schulbuchuntersuchungen, die im Rahmen des Verbundprojekts von unseren Kollegen am Leibniz-Institut für Bildungsmedien in Braunschweig durchgeführt werden, ergeben differenzierte Befunde. Jüdische Geschichte, Kultur und Religion sind in aktuellen Schulbüchern für die jeweiligen Fächer – also Geschichte, Sozialkunde, Ethik und Religion – in entsprechenden Kontexten recht präsent. Doch fallen immer noch Verkürzungen und Stereotypisierungen ins Auge, etwa wenn es um jüdische Geschichte im Mittelalter geht und dabei auf die Rolle von Juden im Geldhandel fokussiert wird, oder wenn Israel fast ausschließlich im Kontext des Nahostkonflikts dargestellt wird und andere Facetten des jüdischen Staates, etwa sein demokratischer Charakter, kaum eine Rolle spielen. Dies scheint, zumindest in den Geschichtsschulbüchern, eine längere Tradition zu haben. Außerdem fällt auf, dass bezüglich jüdischen Lebens in der Gegenwart eine eklatante Lücke klafft. Man denke etwa an das Spiegel-Heft Geschichte zum deutschen Judentum aus dem Jahr 2019, das in dieser Hinsicht leider immer noch exemplarisch für das Bild jüdischen Lebens in der deutschen Öffentlichkeit steht: Auf dem Cover (und unter dem Titel „Die unbekannte Welt von nebenan“) zeigte es eine historische Schwarz-Weiß-Fotografie zweier orthodoxer Juden aus dem Berlin der 1920er Jahre.

Ihr Projekt verbindet kulturgeschichtliche Grundlagen- mit anwendungsorientierter Schulbuchforschung und bereitet die Ergebnisse praxisbezogen für Lehrkräfte auf. Welche aktuellen Aspekte der jüdischen Alltagskultur stehen bei Ihren Themenheften für den Schulunterricht und die Erwachsenenbildung im Fokus?

Cover der Themenhefte für den Unterricht

Vor dem Hintergrund der genannten Leerstellen und Fehlwahrnehmungen geht es uns vorrangig darum, ein zeitgemäßes und authentisches Bild jüdischen Lebens in Deutschland zu vermitteln. Die Einwanderung von mehr als 200.000 Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion seit der Wiedervereinigung, die jüdisches Leben hierzulande seitdem grundlegend veränderte, wurde in dem besagten Spiegel-Heft beispielsweise in ganzen zwei Sätzen abgehandelt. Durch diese Menschen, aber auch durch Zuzug aus Israel und anderen Ländern der Welt insbesondere nach Berlin, hat sich jüdisches Leben in Deutschland jedoch grundlegend gewandelt. Es ist heute viel heterogener, sichtbarer und selbstverständlicher als früher – und diese Pluralität, die auch eine religiöse Vielfalt einschließt, steht bei unseren Heften im Fokus. Wir wollen zeigen, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland nicht die einheitliche Gruppe sind, als die sie in der Öffentlichkeit oft dargestellt werden.

Gibt es einen Rat, den Sie insbesondere Lehrkräften ans Herz legen möchten?

Viele Lehrkräfte kommen auf uns zu und bedanken sich für die erste Ausgabe der Themenhefte, die im September vergangenen Jahres erschienen ist – offensichtlich entsprechen wir hier also einem Bedarf, den es gibt. Wir möchten Lehrkräfte ermuntern, trotz vorhandener Scheu gegenüber dem Thema, das momentan ja durch den Nahostkonflikt zusätzlich politisiert wird, zu Judentum und jüdischem Leben in Deutschland zu unterrichten. Denn jüdische Geschichte ist immer Teil der allgemeinen Geschichte, d.h. ist ohne die Umgebungskultur nicht zu verstehen. Insofern gibt es nicht nur über das Judentum viel Unbekanntes zu entdecken, sondern auch über deutsche Kultur als solche.

Besten Dank für das interessante Interview, Herr Dr. Graf!

(Das Interview erfolgte schriftlich am 12. August 2024. Fragen: Katrin Schlotter)

BMBF-Projekt zur Jüdischen Alltagskultur in Deutschland

Das Verbundvorhaben »Das Objekt zum Subjekt machen. Jüdische Alltagskultur in Deutschland vermitteln« verbindet kulturgeschichtliche Grundlagen- mit anwendungsorientierter Schulbuchforschung und bereitet die Ergebnisse praxisbezogen für Lehrkräfte auf.

Lesetipps:

Im Rahmen des Forschungsprojekts „Das Objekt zum Subjekt machen. Jüdische Alltagskultur in Deutschland vermitteln“ entstehen am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow in Zusammenarbeit mit dem Verband der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands bis 2025 drei Themenhefte für den Schulunterricht und die Erwachsenenbildung. Sie beleuchten verschiedene Aspekte jüdischer Alltagskultur und wollen dazu beitragen, ein zeitgemäßes Bild jüdischen Lebens in Deutschland zu vermitteln.

Das Magazin des Dubnow-Instituts Jüdische Geschichte & Kultur eröffnet Einblicke in die Vielfalt jüdischer Lebenswelten von der Moderne bis zur Gegenwart. Jede Ausgabe widmet sich einem Themenschwerpunkt, der aktuelle Fragen aufgreift, grundlegende Zusammenhänge darstellt und konträre Perspektiven diskutiert. Weitere Aspekte des Gegenstandes werden in den Rubriken Position, Kritik und Archiv behandelt.

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