„deras_on“ – Online-Ansprache gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus
Wie man Antisemitismus im Netz erkennt und wirksam dagegen angeht, das erforscht seit Januar 2023 das BMBF-Verbundprojekt deras_on – Deradikalisierung Antisemitismus Online". Es vereint die wissenschaftlichen Kompetenzen des Zentrums für Antisemitismusforschung mit der praktischen Expertise des Jenaer Jugendhilfevereins Drudel 11 e.V.
Im Interview: Prof. Dr. Uffa Jensen, stellvertretender Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin und Daniel Speer, Leiter des deras_on-Projekts bei Drudel 11 e. V.
Herr Prof. Jensen, seit vielen Jahren erforschen Sie die Bildsprache des Antisemitismus, jüngst in den Bildern der Sammlung Haney. Wie unterscheidet sich die dortige Bildsprache vom heutigen digitalen Antisemitismus?
Uffa Jensen: Wolfgang Haney hat antisemitische Bilder gesammelt, wie sie in Europa und Deutschland bis 1945 zirkulierten. Diese historischen Bilder sind längst nicht alle digital verfügbar und tauchen damit selten in Online-Kommunikation auf. Das soll auch so bleiben.
Die online verwendeten Bilder und Memes sind meistens neue Bilder. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten bei den stereotypen Darstellungen jüdischer Figuren, die im kulturellen Gedächtnis vorhanden sind und immer wieder reproduziert werden. So findet man etwa noch immer Bilder einer angeblichen jüdischen Verschwörung. Aber es gibt Themen, die historisch keine Rolle spielen konnten. Die sind jetzt aber dominant, z. B. antisemitische Bilder, die sich mit dem Themenkomplex Israel beschäftigen. Da gibt es eine Tradition, die bis in die sowjetische Karikatur der 1970er Jahre zurückreicht. Die Sowjetunion hat viele antizionistische Bilder produziert, die auch antisemitisch waren. Zugleich tauchen in diesen neuen Bildern oft Visualisierungen israelischer (Militär-)Macht auf, was es vorher nicht gab.
Was macht es so schwierig, die Codes von Antisemitismus im Internet zu dechiffrieren?
Uffa Jensen: Das Problem antisemitischer Codierung ist potenziell zwar auch ein Problem der Bildsprache, findet sich aber häufiger in antisemitischen Texten. Implizit antisemitische Bilder gibt es seltener. Die Bildsprache im Kontext von digitalem Antisemitismus ist oft eher eindeutig.
Codierter Judenhass im digitalen Raum ist der Versuch, antisemitische Vorstellungen implizit zu kommunizieren, ohne dass sie klar benannt werden. Das Projekt Decoding Antisemitism hat da reichlich Beispiele geliefert. Ein Beispiel, das Antisemitismus transportiert, ist der Begriff "New World Order"/"Neue Weltordnung" (NWO), bei dem – ohne dass von Juden die Rede ist – eine Vorstellung der jüdischen Weltverschwörung mitschwingt. Menschen, die so etwas kommunizieren, müssen das nicht immer wissen, aber die Nutzung des Begriffs ist eindeutig mit antisemitischen Vorstellungen verbunden. Antisemitismus wird sprachlich normalisiert, wenn der Begriff auch in anderen Kreisen aus anderer Intention genutzt wird. Die genaue Beobachtung entsprechender Kontexte zeigt dann: Das wird durchaus als antisemitisch verstanden. Nicht von allen, aber von den Eingeweihten schon. Die anderen haben dann den Code weitergetragen.
Herr Speer, mit dem deras_on-Verbundprojekt wollen Sie wissenschaftlich fundierte Online-Angebote zur Deradikalisierung von Personen entwickeln, die in Online-Foren antisemitische Codes verwenden. Wie gehen Sie dabei vor? Und welche sozialpädagogischen Strategien gibt es jenseits der Gegenrede?
Daniel Speer: Wir gehen davon aus, dass für die Online-Ansprache neben den richtigen Strategien auch die Online-Foren mit ihren plattform-spezifischen kommunikativen Bedingungen eine Rolle spielen. Eine Chatgruppe auf Telegram funktioniert anders als eine Kommentarspalte unter dem Kurzvideo eines rechtextremen Influencers auf Instagram. Man kann die Strategien also nicht losgelöst von anderen Faktoren betrachten. Deshalb schauen wir uns im Projekt Interaktionsdynamiken an und beobachten, wie diese von unseren Interventionen beeinflusst werden. Wir wollen beschreiben, welche Interaktionen im Sinne einer Deradikalisierung kommunikativ gelingender sind als andere.
Da eine in der Fachpraxis und insbesondere auch in der Testphase des Projekts beschriebene Problematik die unmittelbare Erstansprache war, richten wir das Augenmerk aktuell verstärkt auf den Ausgangspunkt der Kommunikation: Wo genau können Online-Ansprachen wirksam anschließen? Der Startpunkt ist damit nicht vorgegeben, sondern wird selbst zum Gegenstand der Forschung. Ob es gelingt, mit Interventionen direkt an antisemitischen Codes anzuknüpfen, wird sich zeigen.
Bei den Strategien suchen wir nach spezifischen Ansatzpunkten. Das können zum Beispiel Ambivalenzen sein, kognitive Dissonanzen oder auch Ansatzpunkte auf der Persönlichkeitsebene. Ziel der Online-Ansprache ist in jedem Fall, den Kontakt zu stabilisieren und nach Möglichkeit mit den Personen längerfristig in professionellen Settings zu arbeiten.
Ihnen beiden besten Dank für das Interview!
(Das Interview erfolgte schriftlich am 16. April 2024, Fragen: Katrin Schlotter)
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