Neu erforscht: Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland
Wie erleben Jüdinnen und Juden Antisemitismus im Alltag, wie verarbeiten sie diesen? Und wo sehen sie gesellschaftliche Problembereiche? Das untersucht das BMBF-Projekt „Auswirkungen des radikalen Islam auf jüdisches Leben in Deutschland (ArenDt)“. Über die ersten Ergebnisse sprechen Prof. Dr. Heiko Beyer und Dr. Melanie Reddig, die das Projekt an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf leiten.
Das ArenDt-Projekt untersucht jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland und führt dafür sowohl Online-Befragungen als auch problemzentrierte Interviews durch. Im quantitativen Teilprojekt wurden 445 Jüdinnen und Juden aus dem ganzen Bundesgebiet befragt, im qualitativen Teilprojekt bislang 21 Personen. Erste quantitative und qualitative Erhebungsergebnisse liegen schon vor.
Frau Dr. Reddig, in Ihrem Teilprojekt führen Sie mit Jüdinnen und Juden in Deutschland einstündige, mündliche Interviews zu Deutungsmustern durch. Wonach fragen Sie und welche Forschungsergebnisse haben Sie am meisten überrascht?
Wir wollen insbesondere wissen, wie die deutsche Gesellschaft wahrgenommen wird, welche Rolle in dieser Situation der Antisemitismus spielt und wie sich Jüdinnen und Juden im Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft und zu anderen religiösen Minderheiten verorten.
Mich hat am meisten überrascht, wie differenziert die Interviewten über Muslime sprechen. Viele Interviewten sind besorgt über die Einwanderung von Muslimen, die in ihren Herkunftsländern in einem antisemitischen gesellschaftlichen Klima sozialisiert wurden und daher bereits in ihrer Kindheit antisemitische Einstellung unreflektiert übernommen haben. Gerade im Zusammenhang mit dem immer wieder aufflammenden Israel-Palästina-Konflikt und pro-palästinensischen Demonstrationen in Deutschland sehen die Interviewten die Gefahr, dass es vermehrt zu verbalen und körperlichen Angriffen auf Juden und jüdische Einrichtungen in Deutschland kommt. Sie wünschen sich, dass die Politik in Deutschland klar Stellung bezieht und eine konsequente staatliche Reaktion etwa auf antisemitische Parolen oder Angriffe auf Synagogen erfolgt.
Gleichzeitig betonen die Interviewten auch ihre positiven Erfahrungen mit Muslimen zum Beispiel bei der Arbeit oder in der Nachbarschaft. Sie sehen zahlreiche Gemeinsamkeiten mit Muslimen, sei es hinsichtlich der religiösen Praxis oder der Diskriminierungserfahrungen in Deutschland. Sie sind der Ansicht, dass versucht werden sollte, diese guten Beziehungen durch noch mehr Möglichkeiten der Begegnung und des Dialogs, zum Beispiel an Schulen, auszubauen.
Die Beziehungen zwischen Juden und Muslimen in Deutschland werden dagegen aus Sicht der Interviewten dadurch gefährdet, dass vor allem rechte politische Akteure gern auf den Antisemitismus unter Muslimen zeigen, um sich selbst in einem guten Licht darzustellen und vom Antisemitismus, der schon sehr lange in Deutschland existiert, abzulenken. Keiner der interviewten Juden ist der Ansicht, dass dieser Fingerzeig auf Muslime ihrer eigenen Sache in irgendeiner Form dient. Er verschärfe nur die Spannungen zwischen Juden und Muslimen in Deutschland.
Zugleich sehen die Interviewten das Problem, dass linke politische Akteure auf Antisemitismusvorwürfe gegenüber Muslimen oft mit pauschaler Abwehr reagieren. Hinweise auf muslimischen Antisemitismus würden sehr schnell als Rassismus eingestuft, ohne sich sachlich mit den Anschuldigungen beschäftigen zu wollen. Das habe auch zur Folge, dass Antisemitismus in der Linken wenig reflektiert werde. Es müsste, wie es ein Interviewter festhält, eigentlich leicht möglich sein, einen Menschen dafür zu kritisieren, dass er antisemitische Einstellungen hat, und zugleich anzuerkennen, dass dieser Mensch Diskriminierung erfährt. Leider sei das teilweise aufgrund der politischen Dynamiken und Lager in Deutschland nicht der Fall.
Diese Situation führt bei vielen Interviewten, die sich politisch engagieren wollen, zu dem Gefühl, in Deutschland keine richtige politische Heimat zu finden. Sie fühlen sich in keinem der politischen Spektren richtig wohl, weil aus ihrer Sicht einige politische Akteure das Problem des Antisemitismus in Deutschland entweder verharmlosen oder instrumentalisieren, um sich selbst moralisch aufzuwerten. Stattdessen sehen sich die Interviewten darauf zurückgeworfen, ihr politisches Engagement allein auf die Bekämpfung von Antisemitismus zu richten, obwohl sie dafür nicht allein die Verantwortung haben wollen und darüber hinaus an vielfältigen politischen Themen interessiert sind.
Herr Prof. Dr. Heiko Beyer, in der quantitativen Teilstudie, die online durchgeführt wird, geht es um die Verbreitung und Ausprägungen des Phänomens des Antisemitismus. Gibt es hier auch schon überraschende Ergebnisse zu den Erfahrungen der Befragten?
In jedem Fall. Wir haben gefragt, wie viele und welche Formen von Übergriffen es gibt, seien es verbale Attacken, physische Attacken, Vandalismus oder Ähnliches. Dann erheben wir, welche Gruppen von Täterinnen und Tätern es gibt und was die entsprechenden Mechanismen dahinter sind.
Bei den Daten aus dem quantitativen Teilprojekt hat uns vor allem überrascht, wie hoch der Anteil der Personen ist, der sich zukünftig aufgrund von Angst vor antisemitischen Übergriffen nicht mehr als jüdisch zu erkennen geben will (42,7% der Befragten) bzw. das eigene Jüdischsein gegenüber Gesprächspartnern verschweigen (32,2%) will.
Auch wenn unsere Daten nicht repräsentativ für alle in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden sind, so kann zumindest für unsere Stichprobe gesagt werden, dass vor allem Personen, die in Städten oder Bezirken mit einem hohen Anteil aktiver Muslime leben, darüber nachdenken, ihr Jüdischsein zukünftig zu verbergen. Gleichzeitig fanden wir aber auch mittels eines Umfrageexperimentes heraus, dass die Befragten sehr genau zwischen „Muslimen“ und „radikalen Muslimen“ unterscheiden und vor allem letztere als Bedrohung wahrnehmen.
Weniger überraschend, aber auch ein nachweisbarer Zusammenhang ist, dass Jüdinnen und Juden, die in Städten oder Bezirken mit einem hohen Anteil aktiver rechtsgerichteter Personen leben, häufig von der Absicht berichten, demnächst umziehen zu wollen.
Wie erleben die Befragten die Debatte zum Israel-Palästina-Konflikt?
Die Interviewten kritisieren das ihrer Meinung nach einseitige, verkürzte Bild der deutschen Medien vom Israel-Palästina-Konflikt, in dem Israel als stärkere Konfliktpartei und alleiniger Aggressor dargestellt werde. Sie sind zwar der Ansicht, dass Kritik an der Politik Israels berechtigt ist. Was auf den ersten Blick als reine Kritik erschiene, basiere leider oft auf einer undifferenzierten, unsachlichen Beschäftigung mit dem Konflikt. Aus Sicht der Interviewten wäre es wünschenswert, wenn Juden, mit ihren sehr unterschiedlichen politischen Einstellungen zum Israel-Palästina-Konflikt, mehr in den deutschen Medien zur Wort kommen würden.
Und noch ein Blick in die Zukunft: Was steht als nächstes bei ArenDt auf der Agenda?
Neben der weiteren Auswertung der qualitativen Interviews und der quantitativen Daten sowie der Verschriftlichung der Ergebnisse arbeiten wir zurzeit mit unserem Praxispartner NDC (Netzwerk für Demokratie und Courage e.V.) an einem politischen Bildungsprogramm, das in den kommenden Jahren bundesweit an Schulen durchgeführt werden wird. Außerdem werden wir Ende November eine Tagung in Düsseldorf durchführen, bei der wir unsere Ergebnisse vorstellen und mit Kolleginnen und Kollegen und der Öffentlichkeit diskutieren.
Ihnen beiden herzlichen Dank für die spannenden Einblicke in Ihre Forschungen!
(Das Interview erfolgte schriftlich am 28. März 2023. Fragen: Katrin Schlotter
Das BMBF-Projekt „Auswirkungen des radikalen Islam auf jüdisches Leben in Deutschland (ArenDt)“
Das auf vier Jahre angelegte Projekt fördert das BMBF im Rahmen der Förderlinie „Gesellschaftliche Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam in Deutschland und Europa“. Im Zentrum des Projekts stehen die unterschiedlichen jüdischen Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland und mögliche Folgen für den Alltag hier lebender Jüdinnen und Juden. Das Projekt untersucht, ob und in welcher Weise der radikale politische Islam gemeinsam und im Vergleich zu anderen politischen Ideologien für erhöhte Diskriminierungserfahrungen, Bedrohungswahrnehmungen und Verhaltensabsichten von in Deutschland lebenden Juden verantwortlich ist. Mit einer standardisierten Online-Befragung sowie qualitativen Interviews sollen sowohl die Prävalenz als auch die Ursachen dieser drei Phänomene untersucht und die Bedeutung des islamistischen Antisemitismus in der Wahrnehmung der jüdischen Gemeinschaft ermittelt werden.
Leitung:
Prof. Dr. Heiko Beyer, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Institut für Sozialwissenschaften, Soziologie IV
Dr. Melanie Reddig, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Institut für Sozialwissenschaften, Soziologie I
Unter Antisemitismus wird in der Forschung mehrheitlich ein geschlossenes Denksystem verstanden, das den „Juden“ die Macht zuschreibt, gesellschaftliche Prozesse konspirativ zu steuern und zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Dieses Denken manifestiert sich in judenfeindlicher Sprache und Gewalt. Es basiert häufig auf starken Emotionen, die mit einer rigiden moralischen Trennung guter und böser „Mächte“ sowie der Konstruktion homogener kollektiver Identitäten – vor allem nationaler und religiöser – verknüpft sind. Die ausführliche Definition des Konzepts „Antisemitismus“ von ArenDt finden Sie auf der Projektwebsite unter Konzepte.
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