Islamistische Radikalisierung – wo und wie sie entsteht

Seit 2020 erforscht das BMBF-Verbundprojekt „Radikalisierende Räume“ (RadiRa) der Universität Bielefeld und der Fachhochschule Münster die Rolle urbaner Milieus bzw. sozialer Räume mit Blick auf neo-salafistische Radikalisierungsprozesse – mit außergewöhnlichen Untersuchungsmethoden.

Im Interview: Prof. Dr. Andreas Zick, Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG), Universität Bielefeld und Prof. Dr. Sebastian Kurtenbach von der FH Münster

Geht es um Radikalisierung, stehen meist individuelle Einflussfaktoren oder gruppenbezogene Prozesse im Fokus der Forschung. Wie kamen Sie auf die Idee, soziale Räume zu untersuchen? Und wie sind Sie dabei vorgegangen?

Prof. Dr. Andreas Zick

Prof. Dr. Andreas Zick ist Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) und Professor für Sozialisation und Konfliktforschung an der Universität Bielefeld.

Universität Bielefeld

Andreas Zick: Die Idee ist einfach: Es ist kein Zufall, wo die Radikalisierung staffindet. Wir bestreiten nicht, dass es individuelle Einflussfaktoren oder Gruppenprozesse gibt, die Radikalisierungsprozesse prägen. Die werden von uns auch untersucht. Die besondere Herausforderung für die Forschung besteht aber gerade darin, diese in einen räumlichen Kontext zu stellen. Die Frage, wie Räume mit ihren Bedingungen auf Menschen wirken, ist noch wenig erforscht.

Sebastian Kurtenbach: So entstand das Projekt. Dabei richten sich unsere empirischen Analysen auf die Anfälligkeit für Radikalisierung, für die wir im Übrigen ein neues Messinstrument entwickelt haben. Wir haben für die Analysen verschiedene methodische Zugänge gewählt: Befragungen, Interviews und ethnographische Erhebungen und Vergleiche über Räume, die sich in den sozialen Strukturen und anderen Faktoren unterscheiden.

Ihr Vorhaben zeichnet sich durch eine besondere Untersuchungsmethode aus: Sie waren vor Ort in den Stadtteilen, in denen salafistische Lebenswelten vorzufinden sind, um Einflussfaktoren für die Anfälligkeit für Radikalisierung zu erkunden. Was konnten Sie herausfinden?

Prof. Dr. Sebastian Kurtenbach ist Professor für Politikwissenschaften/Sozialpolitik an der Fach-hochschule Münster.

Prof. Dr. Sebastian Kurtenbach ist Professor für Politikwissenschaften/Sozialpolitik an der Fachhochschule Münster.

Wilfried Gerharz

Sebastian Kurtenbach: Das wichtigste Ergebnis ist, dass der Raum eine verstärkende Wirkung auf Risikofaktoren hat, die die Anfälligkeit für Radikalisierung begünstigen. Dies erklärt, warum Radikalisierung in bestimmten Stadtteilen häufiger vorkommt. Die ethnografischen Feldstudien haben uns geholfen, Unterschiede zwischen den Stadtteilen genauer zu erkennen. Jeder Raum hat eine andere historische Prägung, die wiederum eine eigene Alltagslogik und Kultur des Umgangs mit radikalen Gruppen hervorbringt. Diese Logik bestimmt die Alltagsorganisation, wie das Verhältnis der islamistischen Szene zu anderen Gruppen im Stadtteil.

Andreas Zick: Islamistische Gruppen können den Raum auf unterschiedliche Weise aneignen. In einem Stadtteil koexistieren sie, sind also von anderen Gruppen getrennt, aber ungestört. In einem anderen Stadtteil prägt eine konservative Auslegung der Religion das Zusammenleben. In einem dritten Viertel gehen sie mit anderen Gruppen fast ineinander über, so dass es zu einem Nebeneinander von Straßenkultur und Islamismus kommt. Das sollte sich eigentlich reiben, erhält aber durch die Raumbedingungen eine gewisse Plausibilität.

Auf der Online-Plattform www.radikalisierende-raeume.de sind die Projektergebnisse zugänglich. Wie machen Sie darüber hinaus Ihre Forschungsergebnisse nutzbar, etwa für die sozialräumliche Präventionsarbeit?

Sebastian Kurtenbach: Das haben wir von Beginn an getan. Kernstück ist dabei eine Praxisstrategie zur sozialräumlichen Radikalisierungsprävention, die wir zum Download zur Verfügung stellen. Sie soll dazu dienen, möglichst unkompliziert ein Präventionskonzept auf Stadtteilebene zu entwickeln, aber auch Orientierung geben, was zu tun ist, wenn es im Stadtteil zu einer Radikalisierung gekommen ist. Darüber hinaus haben wir die Projektergebnisse in verschiedene Formate der Wissenschaftskommunikation wie Podcasts und eine Videodokumentation übertragen. Wir haben von Beginn an mit den möglichen Nutzenden der Forschung zusammengesessen. Das hat enorm geholfen, den Nutzen zu gestalten.

Apropos Nutzen: Steht das Projekt auch weiterhin für konkrete Anfragen aus dem sozialen Raum (Kommune, Zivilgesellschaft, Eltern, betroffene Community etc.) zur Verfügung?

Sebastian Kurtenbach: Ja, wir stehen weiterhin für konkrete Anfragen zur Verfügung.

Ihren beiden besten Dank für das spannende Interview!

(Das Interview erfolgte schriftlich am 30. Juli 2024, Fragen: Katrin Schlotter)

Das BMBF Verbundprojekt Radikalisierende Räume (RadiRa)

RadiRa erforscht Raum als Einflussfaktor auf salafistische Radikalisierungsprozesse. Ziel ist es, ein Verständnis über die räumlichen Kontextbedingungen zu entwickeln, unter denen salafistische Radikalisierungsverläufe stattfinden. Außerdem sollen die Möglichkeiten sozialpädagogischer Intervention im Rahmen von Prävention gestärkt werden.


Leitung: Prof. Dr. Andreas Zick, Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG), Universität Bielefeld und Prof. Dr. Sebastian Kurtenbach, FH Münster, Fachbereich Sozialwesen

Laufzeit: 10/2020 - 09/2024

Das Transfervorhaben RADIS

Das Transfervorhaben RADIS, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird, vernetzt intern und extern zwölf Forschungsprojekte der BMBF-Förderlinie „Gesellschaftliche Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam in Deutschland und Europa“ und unterstützt die Forschungsprojekte bei der Identifizierung übergreifender Fragen, Herausforderungen und Thesen, die die großen Themen der gesamten Förderlinie abbilden.

Laufzeit: 11/2020 - 10/2025

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