Welche Relevanz hat Religion für Radikalisierung? Interview zum BMBF-Forschungsprojekt RiRa (Radikaler Islam versus radikaler Anti-Islam)
Von Vorurteilen und Bedrohungswahrnehmungen über Diskriminierung bishin zur Gewalt – das Verbundprojekt RiRa erforscht Radikalisierungsprozesse und erarbeitet mögliche Präventivmaßnahmen. Wie sich Religion auf Radikalisierung auswirkt, erfahren Sie im Interview mit dem Religionssoziologen Prof. Dr. Gert Pickel.
Laut der Leipziger Autoritarismus-Studie 2022 nimmt die Muslimfeindlichkeit im Osten Deutschlands zu. 46,6 % Prozent stimmten der Aussage zu, dass Muslimen die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden sollte. Welche Relevanz hat Religion für Radikalisierung?
Religion kann in zwei Arten wirksam werden. Einerseits als religiöse Prägung, die im extremen Fall religiöse Radikalisierung ermöglichen kann, andererseits als Referenzpunkt für Radikalisierung. So werden in der oben genannten Studie Muslime aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit pauschal abgelehnt. Und das kann zu einer Radikalisierungsspirale führen.
Mit RiRa wollen wir diese Radikalisierungsspirale erfassen. Dabei beginnen wir auf der Ebene von Bedrohungsgefühlen, die sich dann über wechselseitige Vorurteile, Diskriminierung und Exklusionsprozesse bis hin zu Gewaltakten steigern können. Am Ende steht die Abwendung von demokratischen Prozessen. Diesen Radikalisierungsdynamiken versuchen wir uns zu nähern. Gleichzeitig möchten wir kollektive Präventivmaßnahmen erarbeiten, die den Prozessen entgegenstehen, so dass wir auch Ausstiege aus dieser Spirale befördern können.
Ihr Teilprojekt fokussiert sich innerhalb des RIRA-Konsortiums auf Bedrohungsgefühle mit religiösem Bezug. Ist es nicht schwierig, Bedrohungsgefühle und Radikalisierungstendenzen zu erfassen? Wie gehen Sie dabei vor?
Konkret untersuchen wir Radikalisierungstendenzen, die im Rechtsextremismus in Bezug auf Musliminnen und Muslime festzustellen sind. Grundlegend ist dafür eine empfundene Bedrohung durch Muslime oder den Islam. Wir gehen davon aus, dass Bedrohungsängste das Rückgrat von rechter Radikalisierung bilden. Dieses Rückgrat ergibt sich aus der Wahrnehmung von Akteuren der extremen Rechten, dass sie große Teile der Bevölkerung hinter sich haben. Bedrohungsgefühle werden dabei bereits seit Jahren in repräsentativen Umfragen erfasst. Hier sind zum Beispiel die Studien des Religionsmonitors hervorzuheben, die Bedrohungsängste gegenüber Religionsgemeinschaften erheben. Diese haben wir um weitere Gruppen, wie Rechtsextreme, Linksextreme oder islamkritische Menschen ergänzt, um ein breiteres Bild der Ängste zu bekommen. Eindeutig ist, dass mehr als drei Viertel der Bundesbürger Angst vor Rechtsextremen haben.
Unlängst haben Sie eine Umfrage unter Musliminnen und Muslimen durchgeführt, um zu sehen, was deren Bedrohungswahrnehmungen sind und ob sie sich von Rechtsextremen und rechten Diskursen oder Diskursen überhaupt bedroht fühlen. Wie lief die Befragung ab? Und gibt es schon erste Ergebnisse?
Diese Befragung war deutlich schwieriger als die Repräsentativbefragung, hier musste doch erst der Zugang zu Muslimen und Musliminnen gefunden werden. Unser Befragungsinstitut USUMA ging nach klassischen Verfahren der Umfrageforschung (Schwedenschlüssel, etc.) in Kombination mit einem kontrollierten Schneeballverfahren die Gruppen ab und konnte über 600 Interviews durchführen. Dies dauerte allerdings recht lange, da Muslime und Musliminnen in Deutschland vorsichtig und gerade bei so sensiblen Fragen sehr zurückhaltend sind. Da brachte unsere Übersetzung in türkische und arabische Fragebögen nur begrenzt zusätzlichen Gewinn. Gleichwohl haben wir jetzt die Ergebnisse vorliegen und sind in der Auswertung. Bisher zeigen die Ergebnisse folgendes: Eine überwältigende Mehrheit der Muslime und Musliminnen in Deutschland erkennt die Demokratie als das beste Regierungssystem an. Über 60% der Befragten berichten von Diskriminierungserfahrungen. Die Gewaltbereitschaft ist in der Breite verschwindend gering.
Untersuchen Sie auch die Radikalisierungsprozesse unter Muslimen und Musliminnen?
Ja, dabei sind wir allerdings noch am Anfang. Bisher sehen wir folgendes: eine sehr geringe Gewaltbereitschaft, gleichzeitig aber häufiger als im Bevölkerungsdurchschnitt antisemitische Ressentiments. Diese sind allerdings nicht einzigartig, sondern vergleichbar mit antisemitischen Ressentiments innerhalb der Wählerschaft rechtspopulistischer Parteien. Sind bei Muslimen und Musliminnen die antisemitischen Ressentiments eher israelbezogen, sind sie im Fall der Wähler und Wählerinnen von Rechtspopulisten am stärksten im sogenannten sekundären Antisemitismus, also z. B. dem Mechanismus der Schuldabwehr, zu finden. Radikale Positionen werden unter Muslimen und Musliminnen wie unter Christen und Christinnen durch fundamentalistische religiöse Vorstellungen verstärkt, ohne dass dies ein Automatismus ist.
Was verstärkt, was bremst die Radikalisierungsspirale?
Insgesamt ist die Zahl der gewaltbereiten Radikalen aus Sicht der Meinungsforschung niedrig. Schon jetzt lassen sich Prozesse erkennen, mit denen Radikalisierung entgegengearbeitet werden kann. So ist es in der Regel eben keine kluge Entscheidung etablierter Politiker und Politikerinnen, die von rechter Seite provozierte antimuslimische Atmosphäre in der Gesellschaft zu bestärken. Genau dies ist Futter für Rechtsextreme - und bestärkt all jene, die bislang nur in ihren Einstellungen radikal sind, sich weiter zu radikalisieren. Gleichzeitig entsteht unter Muslimen und Musliminnen der Eindruck, von der Gesellschaft abgelehnt zu werden, was eine Radikalisierung begünstigt. Diese Prozesse sind im Gange, erreichen aber Gott sei Dank nur selten den Zustand einer gewaltvollen Radikalisierung. Soziales Vertrauen, Abbau von Rassismus und bereits eine konsequente Auseinandersetzung mit einer einstellungsbasierten Radikalisierung wirken Radikalisierung entgegen.
Herzlichen Dank für Ihre Einschätzung, Herr Professor Pickel!
(Das Interview erfolgte schriftlich am 11.04.2023, Fragen Katrin Schlotter)
Das BMBF-Forschungsprojekt RiRa
Das BMBF-geförderte Verbundprojekt RiRa erforscht gesellschaftliche Polarisierung und wahrgenommene Bedrohungen als Triebfaktoren von Radikalisierungs- und Co- Radikalisierungsprozessen bei Jugendlichen und Post-Adoleszenten. Dabei arbeiten die Universitäten Duisburg-Essen, Leipzig, Osnabrück und das Leibniz-Institut für Bildungsmedien | Georg-Eckert-Institut (GEI) mit Praxispartnern zusammen. Ziel des Vorhabens ist zu erarbeiten, wie man gegen eine (Co-)Radikalisierung junger Menschen intervenieren und wie man ihr vorbeugen kann. Leitung: Prof. Dr. Susanne Pickel, Institut für Politikwissenschaft, Universität Duisburg-Essen Laufzeit: 12/2020 - 08/2024
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