Transnationaler Wissensspeicher: Dubnow-Institut erforscht Schocken-Archiv in Jerusalem
Seltene Manuskripte, Erstausgaben und Werke bedeutender jüdischer und nicht-jüdischer Autorinnen und Autoren – der jüdische Unternehmer, Verleger und Mäzen Salman Schocken (1877-1959) hinterließ ein umfangreiches Archiv – das Schocken-Archiv in Jerusalem. Nun werden dieser Bestand und seine Geschichte durch das Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow erforscht.
Im Interview: Dr. Caroline Jessen, Projektkoordinatorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin mit dem Schwerpunkt Material Studies am Dubnow-Institut.
Das Schocken-Archiv in Jerusalem zählt zu den bedeutendsten und umfangreichsten erhaltenen Archivbestände zur jüdischen Geschichte in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Welche Kulturschätze sind dort bewahrt? Inwieweit sind sie erschlossen?
Das Schocken-Archiv dokumentiert die Arbeit und das Leben des jüdischen Unternehmers, Verlegers und Sammlers Salman Schocken (1877-1958) vom Kaiserreich bis in die Jahre nach der Staatsgründung Israels und die Zeit des Kalten Kriegs. Weil Schocken sich intensiv in das kulturelle und politische Leben seiner Zeit eingebracht hat, bildet das Archiv jenseits des Biografischen eine sehr kritische Zeit in der europäisch-jüdischen Geschichte ab.
Schocken hat von Zwickau aus gemeinsam mit seinem Bruder Simon eine der größten modernen Warenhausketten in Deutschland aufgebaut. Ein Teil des Konzern-Archivs blieb in Deutschland zurück, viele Akten konnten aber nach 1933 nach Jerusalem gerettet werden. Das Archiv umfasst zudem Material zum Schocken-Verlag Berlin, einem der bedeutendsten jüdischen Verlage während des Nationalsozialismus. Nicht nur in diesem Teil des Archivs befinden sich umfangreiche Briefwechsel mit jüdischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern sowie mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern: Dazu zählen etwa Hannah Arendt, Martin Buber, Else Lasker-Schüler, Gershom Scholem und Karl Wolfskehl. Andere Teile dokumentieren Schockens weitgespannte private Kontakte, die Förderung jüdischer und nicht-jüdischer Kultureinrichtungen, seine Unterstützung des Aufbaus der Hebrew University in Jerusalem, die Verlagsarbeit in New York – und nicht zuletzt auch die Geschichte einer bedeutenden Bücher-, Kunst- und Autografensammlung, die mich besonders interessiert.
Das Archiv ist Eigentum der Familie Schocken und wird vom JTS Schocken Institute for Jewish Research in der Schocken Library in Jerusalem betreut. Es ist bislang nur durch historische Findmittel in Teilen erschlossen, befindet sich aber noch in seiner historischen Ordnung; diese Überlieferungssituation ist sehr besonders.
Was möchten Sie mit Ihrem Projekt bewirken?
Wir wollen zeigen, wie grundlegend das Archiv als transloziertes Kulturgut für ein Verständnis der unterschiedlichen Aktivitäten Schockens und ihres Zusammenhangs ist. Die Bedeutung erschöpft sich nicht in der Summe der Quellen: 1932 konstatierte der Journalist Hans Siemsen, das Schocken-Logo – ein quadratisches »S« – sei »Zeichen für Betrieb und Idee ›Schocken‹«. Schon sechs Jahre zuvor hatten das Mitteilungsblatt der Schocken-Kommandit-Gesellschaft mit dem schönen Titel »Die Zentrale« ein Zitat aus der Presse wiedergegeben, in der es 1926 hieß, das Logo »S« sei »das musikalische Hauptmotiv, auf das jede Einzelheit des Unternehmens abgestimmt ist«, es sei »Sinnbild des Unternehmens in seiner äußeren Form und in seiner inneren Gestaltung.« Wir schließen an diese Vorstellung an und versuchen, Zusammenhänge in den Blick zu nehmen, Leitmotive der Arbeit Schockens herauszuarbeiten. Das Archiv ist Ausgangspunkt für diese Forschung, es zeigt nicht zuletzt, welche Rolle hier Gestaltung einnahm.
Das Archiv spiegelt Wissensordnungen und Vorstellungen von Informationsorganisation und Gestaltung ebenso wie die Herausforderungen, die sich durch erzwungene Translozierungen und Rekontextualisierungen ergeben. Es dokumentiert Tätigkeitsbereiche und manchmal auch die Art ihrer Verflechtung, offenbart aber auch die Verluste: den Verlust von Menschen, Eigentum und Dokumenten – und Wege, mit diesen Verlusten umzugehen. Daher widmen wir uns auch Strategien der »Selbstarchivierung« und der historischen Dokumentation in der Zeit des Nationalsozialismus.
Wichtig ist uns, all dies materialnah und im Austausch mit anderen zu erkunden. Die Ergebnisse möchten wir in einem Katalog zeigen, der das Archiv visuell erfahrbar macht. Zudem bereiten wir eine Ausstellung am Dubnow-Institut vor, die sich Schockens von Erich Mendelsohn entworfenem Garten widmen wird. Gerade der in Jerusalem ab 1936 minutiös geplante Garten als imaginiertes geordnetes Ganzes scheint uns, im Widerspruch zu seiner in vielem nicht mehr planbaren Zeit, ein besonders spannendes, fast symbolisches Element im Kontext unserer Überlegungen zu sein. Diese Ausstellung wird einer unserer Beiträge zum Themenjahr Jüdische Kultur in Sachsen 2026 werden, auf das wir uns sehr freuen.
Wie gehen Sie bei Ihren Forschungen vor? Und was steht als nächstes an?
Der Krieg im Nahen Osten hat unsere Forschung nicht einfacher gemacht, in den letzten 12 Monaten war es nicht möglich, in Jerusalem zu arbeiten. Durch Vorarbeiten hatten wir glücklicherweise schon Quellen zur Geschichte des Archivs erschlossen. Aktuell unterstützen uns die Kollegen im Schocken Institute for Jewish Research mit Recherchen, Scans und Auskunft sehr. Ohne sie wäre unsere Arbeit zurzeit nicht möglich.
Für Ende November planen wir zusammen mit Yemima Hadad, der Juniorprofessorin für Judaistik an der Universität Leipzig, einen Workshop, zu dem wir internationale Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Disziplinen eingeladen haben, die sich mit Schocken oder seinem Umfeld beschäftigen. Zusammen mit ihnen wollen wir unsere Pläne für das Buchprojekt diskutieren und weiter entwickeln.
Langfristig streben wir gemeinsam mit dem Schocken Institute, der Familie Schocken und der Staatsbibliothek zu Berlin an, das Archiv sichtbarer, zugänglicher für die internationale Forschung zu machen.
Besten Dank für die interessanten Einblicke, liebe Frau Dr. Jessen!
(Das Interview erfolgte schriftlich am 10. Oktober 2024. Fragen: Katrin Schlotter)
»Betrieb und Idee«. Salman Schockens Universum im Jerusalemer Archiv
Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow (DI) erforscht interdisziplinär und epochenübergreifend jüdische Lebenswelten im mittleren und östlichen Europa vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Das Forschungsprojekt „»Betrieb und Idee«. Salman Schockens Universum im Jerusalemer Archiv“ des Leibniz-Instituts wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.
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