Konflikte und Kunst: Einblicke in das Forschungsnetzwerk LoKoNet

Das Kunst- und Kulturfestival Kemnade International war eines der ersten Festivals der kulturellen Vielfalt in Deutschland. Welche Rolle spielen Musik und Kunst bei der Bewältigung von Konflikten? Mit dem „Konfliktlabor Kemnade“ begab sich das Bochumer Teilprojekt des BMBF-geförderten Forschungsverbundes LoKoNet auf Spurensuche.

Dilek A. Tepeli

Dr. des. Dilek A. Tepeli, LoKoNet-Teilprojektleiterin an der Ruhr-Universität Bochum

Phuong Tran Minh

Im Interview: Dr. des. Dilek A. Tepeli, LoKoNet-Teilprojektleiterin an der Ruhr-Universität Bochum (RUB).

LoKoNet erforscht die Wechselwirkung von Konflikten, Emotionen und Raumkonstruktionen. Womit befasst sich das Bochumer Teilprojekt?

Das Bochumer Teilprojekt beschäftigt sich im Kern mit Nachbarschaftskonflikten. Diese erscheinen auf den ersten Blick meistens als Auseinandersetzungen um klare Streitpunkte. Die Konfliktparteien geben sachliche Gegenstände und gute Gründe für ihre Positionen und Handlungen (wie etwa Beschwerden bei der Vermieterin) an. Themen wie Lärmbelästigung, verschmutzte Hausflure oder überfüllte Mülltonnen bieten oft den Zündstoff für Streit. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass es nicht immer oder nicht nur um den offensichtlichen Streitgegenstand geht. Vielmehr überdecken oder überlagern manifeste Konfliktinhalte oftmals tieferliegende, latente Sinn- und Bedeutungsebenen von Konflikten, die den Streitparteien selbst nicht immer bewusst sind. Am Beispiel von Nachbarschaftskonflikten zeigen wir, dass sich hinter scheinbar banalen Auseinandersetzungen – etwa um fußballspielende Kinder oder um den Wunsch nach Abstand gegenüber bestimmten Nachbarn – oft latente Bedeutungen und psychosoziale Dynamiken verbergen. Bleiben solche latenten Konfliktebenen unentdeckt, erschwert dies die Kommunikation, Bearbeitung und Beilegung von (Nachbarschafts-)Konflikten.

Eine Grundannahme von LoKoNet ist, dass Konflikte dazugehören und sie als Chance für Veränderungen und gesellschaftliche Mitbestimmung verstanden werden können – vor 50 Jahren genauso wie heute. Hat sich diese Annahme im Lauf Ihrer bisherigen Forschungen an der Ruhr-Universität Bochum bestätigt?

Ja, diese Annahme bestätigt sich, muss jedoch differenziert betrachtet werden. Nicht jede Form oder Austragung von Konflikten trägt zu gesellschaftlicher Mitbestimmung und positiven Veränderungen bei. Wir unterscheiden daher konstruktive, friedfertig ausgetragene Konflikte von solchen, die destruktiv und gewaltvoll (wie etwa Kriege) ausgetragen werden. Auch stellen gesellschaftliche Konflikte wie Armut, (Langzeit-)Erwerbslosigkeit, Obdachlosigkeit, Isolation, Diskriminierung und soziale Ausgrenzung keine konstruktiven Konflikte dar. Sie können bei einzelnen Menschen und Gruppen zu Desintegrationserfahrungen führen und Radikalisierungen begünstigen. Diese Art von Konflikten macht Menschen zudem anfälliger für jegliche Form fanatischer Ideologie und gefährdet damit eher die Stabilität unserer liberalen Demokratie. Darüber hinaus verstoßen diese Konflikte gegen das demokratische Versprechen von Teilhabe und Mitbestimmung. Schauen wir in die Vergangenheit, so konnten bereits Karl Marx und Friedrich Engels zeigen, dass soziale Bewegungen wie die Arbeiter:innenbewegung und der Klassenkampf als Motor sozialen Wandels dienen können, um Verhältnisse sozialer Ungleichheit anzugreifen. Marx und Engels betonten dabei, was bis heute gültig und in unserer Verfassung verankert ist: Jedem Menschen, unabhängig von seiner gesellschaftlichen Stellung, steht ein würdevolles Leben zu.

Mit dem „Konfliktlabor Kemnade“ haben Sie mit Blick auf das Festival untersucht, welche Rolle Musik und Kunst bei der Bewältigung von Konflikten spielen – und haben im Sommer einen Workshop mit den ehemals am Festival Beteiligten durchgeführt. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse?

Als es um die Planung und Entwicklung des Konfliktlabors mit den beiden Kuratorinnen Eva Busch und Özlem Arslan (Kunstmuseum Bochum) ging, waren Prof. Dr. Jürgen Straub und ich uns schnell einig: Kemnade International ist ein sehr interessantes Beispiel für die Bearbeitung von sogenannten „kollektiven Verletzungsverhältnissen“ (Straub). Das Festival wollte dabei nicht bloß ein folkloristisches „Multikulti-“Festival der Kulturen sein, sondern verfolgte von Anfang an ein klares politisches Anliegen. Dieses lag beispielsweise darin, migrantische beziehungsweise postmigrantische Gruppen in die Festivalorganisation miteinzubeziehen. Kemnade International bietet uns ein sehr gutes Beispiel dafür, wie gesellschaftliche Konflikte um Marginalisierung und Ausschluss konstruktiv und gewaltlos bearbeitet werden können. Die Einhegung von Konflikten wurde durch die sogenannte Friedensregel gewährleistet. Sie besagte, dass die Austragung von Konflikten friedlich gestaltet sein musste. Ein ehemaliger Teilnehmer des Festivals wurde von der Masterstudentin Lilly Wirth im Rahmen ihrer Masterarbeit interviewt. Ihr Ergebnis ist, dass diese gerade mal drei Tage Festival im Jahr für ihren Interviewpartner ungemein wichtig waren, da er die mit seiner Marginalisierung verbundenen Einsamkeitsgefühle überwinden und durch Kemnade ein starkes Gemeinschaftsgefühl erleben konnte. Kemnade International stellt aus unserer Sicht also ein kleinformatiges Abbild unserer vielfältigen Demokratie dar, von dem wir noch viel lernen können. Es kann uns als Vorbild für einen friedlichen Konfliktrahmen dienen, der mit Kunst, Musik, Lyrik und Tanz einen Begegnungs-, Artikulations- und Zugehörigkeitsraum schaffte, in dem Dissens, Ausgrenzung und die Sehnsucht nach Teilhabe konstruktiv ausgedrückt werden konnten.

Welche weiteren Transferprojekte stehen auf Ihrer Agenda?

Im Oktober werden in zwei öffentlichen Veranstaltungen und zwei Workshops mit Jessica Benjamin, einer der prominentesten Psychoanalytikerinnen und Sozialtheoretikerinnen unserer Gegenwart, Möglichkeiten der Artikulation, Aushandlung und Anerkennung schwerer Konflikte zwischen Gruppen behandelt. Es wird gefragt, wie die Bearbeitung und Beilegung extrem gewaltvoller Konflikte – nach oder in (Bürger-) Kriegen oder der massiven Unterdrückung von Minderheiten – möglich werden kann. Diese Frage wird an Beispielen wie dem ehemaligen Apartheitsregime in Südafrika, den sogenannten Balkan- oder Jugoslawienkriegen der 1990er Jahre oder der anhaltenden, vielfältigen Gewalt zwischen Israel und Palästina erörtert. Grundlage ist Benjamins psychoanalytische, politisch und moralisch gehaltvolle Theorie der Anerkennung und Zeugenschaft sowie ihre langjährige praktische Erfahrung in der Mediation solcher extrem verletzenden Konflikte und ihrer psychosozialen Folgen.

Vielen Dank für das interessante Interview, liebe Frau Dr. Tepeli!

(Das Interview erfolgte schriftlich am 10.10.2024. Fragen: Katrin Schlotter)

Friedens- und Konfliktforschung

Im Förderbereich der Friedens- und Konfliktforschung werden derzeit zehn Verbundvorhaben vom BMBF gefördert: Sie tragen dazu bei, dass Politik und Gesellschaft internationalen Entwicklungen auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse angemessen begegnen können. Die Verbünde der Förderlinie unterteilen sich in zwei unterschiedliche Förderformate: sieben Kompetenznetze und drei Regionale Zentren.

Das Netzwerk LoKoNet

Das „Netzwerk Lokale Konflikte und Emotionen in Urbanen Räumen: Transdisziplinäre Konfliktforschung in Wissenschaft-Praxis-Kooperationen“ (Koordination FH Erfurt) wird seit 1. April 2022 für vier Jahre im Rahmen der Förderlinie „Stärkung und Weiterentwicklung der Friedens- und Konfliktforschung“ vom BMBF gefördert. Unter der Koordination der FH Erfurt wird erforscht, wie die Konstruktion von Räumen mit der Entstehung und dem Verlauf von Konflikten in Wechselwirkung steht und wie Emotionen in lokalen Konfliktdynamiken wirksam und bearbeitbar werden.

LoKoNet-Partner sind:
Fachhochschule Erfurt
Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung
K3B – Kompetenzzentrum Kommunale Konfliktberatung
Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung
Ruhr-Universität Bochum
Technische Universität Dortmund

Mehr zum Thema: