Internationale Vergleichsstudie zur sozialen Realität der Corona-Pandemie
Im internationalen Forschungsprojekt „Social Mobilization as a Policy Lever“ (SMAPL) analysieren Forschende die soziale Realität der Corona-Pandemie in marginalisierten Stadtteilen – und beziehen benachteiligte Bevölkerungsgruppen in die Forschung mit ein. Über das deutsche Teilprojekt sprachen wir mit Prof. Dr. Michael Knipper, der die Forschungen an der Uni Gießen leitet.
Im Interview: Prof. Dr. Michael Knipper, Professur für Global Health, Migration und Kulturwissenschaften in der Medizin am Institut für Geschichte der Medizin an der Justus-Liebig-Universität (JLU) in Gießen.
Im Rahmen der internationalen Vergleichsstudie erforschen Sie in Deutschland die Auswirkungen der Corona-Pandemie, in der Gießener Nordstadt und der Bochumer Hustadt. Was genau untersuchen Sie? Und wie gehen Sie dabei vor?
Wir untersuchen die soziale Realität der Corona-Pandemie, die Auswirkungen, die Wahrnehmung und das Pandemie-Management durch die Bevölkerung von Stadtteilen oder Communities, die nicht zentral im Blick der Gesundheitspolitik standen. Also, in Brasilien ist das eine Favela in Sao Paulo, in Peru sind das indigene Gruppen, in Kanada verschiedene migrantisch geprägte Lebenswelten. Und hier in Deutschland stehen die Gießener Nordstadt und der Bochumer Hustadt im Fokus: Beide Stadtteile sind sehr stark von Armut betroffen, haben einen hohen migrantischen Anteil der Bevölkerung und sind sozial stigmatisiert.
Wir fragen, wie die Communities die Pandemie wahrgenommen haben, wie sie sich untereinander unterstützt haben und was von nationaler, aber auch lokaler Unterstützung bei ihnen ankam. Dabei geht es auch um die Frage, inwieweit durch die Unterstützung untereinander politische, gesellschaftliche Partizipation erwächst, auch als Folge der Corona-Pandemie. Das ist der große Rahmen. Wir haben also ähnliche Fragestellungen in sehr unterschiedlichen internationalen Kontexten und schauen, welche Muster sich zeigen, wo sie ähnlich sind oder sich lokal unterscheiden. Aspekte wie Stigmatisierung oder ein nicht erreichbarer Staat spielen dabei, wie wir jetzt schon sehen, eine große Rolle.
Was kann eine Community Perspektive auf die Corona Pandemie leisten, was nicht?
Die Community-Perspektive gibt Antworten auf genau die eben genannten Fragen: Sie stellt die Wahrnehmung, die Sichtweise der Communities in den Mittelpunkt. Die Community wird direkt in das Forschungsprojekt einbezogen, um so gemeinsam mit ihr Wissen zu produzieren statt nur über sie zu sprechen.
Die Bochumer Methode der Stadtteilforschenden, die von Prof. Christiane Falge und Prof. Silke Betscher von der Hochschule für Gesundheit in Bochum entwickelt wurde, kommt in der Hustadt schon seit fünf Jahren zum Einsatz. Menschen aus den Communities erlernen in Zusammenarbeit mit den Forschenden die Grundlagen von Forschung, um dann selbst bei der Formulierung der Fragestellungen, bei den Interviews, bei der Auswertung mitzumachen. Das ist eine Form von Empowerment!
Die Community-Perspektive ist nicht repräsentativ, erst recht nicht im statistischen Sinne. Aber die Community-Perspektive ist eine sehr wichtige Perspektive, die sehr lange nicht gehört wurde. Und wir ergänzen sie mit systematischer Forschung, etwa mit Interviews mit Hilfsorganisationen, Vereinen etc. Auch hier helfen uns die Stadtteilforschenden, etwa um Ansprechpartner zu finden. Einen türkischen Supermarktbesitzer zum Beispiel, der eine ganz besondere Sicht auch auf die Versorgungslage, auf die sozialen Probleme der Menschen hat. Und genau darum geht es: Wir versuchen, die Pandemie möglichst nah an der Lebensrealität der in den Stadtteilen lebenden Menschen zu rekonstruieren, zu beschreiben.
Gibt es schon erste Erkenntnisse?
Ja, mehrere. Auf der Community-Ebene haben wir gesehen, dass die öffentliche Hand primär als Kontrollinstanz wahrgenommen wurde, die Regeln aufstellte, die sich sehr schnell änderten, die oft nicht nachvollziehbar waren und die nicht gut kommuniziert wurden. Es gab zum Beispiel kaum zielgruppenorientierte Informationsangebote, kaum Dialog. Wer Unterstützung geleistet hat, das waren die Menschen in den Communities selbst, aber auch Vereine, Wohlfahrtsverbände etc. Eine weitere, erste Erkenntnis ist, dass das Engagement der Menschen im Stadtteil oft nicht gesehen, nicht gewürdigt und auch nicht genutzt wurde. Im internationalen Vergleich sehen wir, dass zum Beispiel Brasilien viel stärker auf Dialog mit den Communities setzt. Wir stellen ein hier Missverhältnis fest: Deutschland fördert Community-Ansätze stark auf internationaler Ebene, nicht aber im eigenen Land.
Wir brauchen dringend geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung zu Gesundheit und Gesundheitsversorgung. Wir können das nicht allein der Medizin überlassen – und ich bin selbst Mediziner. Wir brauchen mehr kreative und partizipative Forschung!
Besten Dank für das ausführliche Interview, Herr Professor Knipper!
(Das Telefoninterview fand am 7. Juni 2024 statt, Fragen: Katrin Schlotter)
Das TAP-Verbundprojekt „Social Mobilization as a Policy Lever“(SMAPL) gefördert im Rahmen der Trans-Atlantic Platform (T-AP)-Ausschreibung „Recovery, Renewal, and Resilience in a Postpandemic World“
Das Verbundprojekt „Soziale Mobilisierung als politischer Hebel? Ein transatlantischer Dialog zu zivilgesellschaftlichem Einsatz und dezentralem politischen Handeln“ erforscht die Interaktion zwischen lokaler zivilgesellschaftlicher Mobilisierung und dezentralem Regierungshandeln anhand von Fallstudien in Brasilien, Kanada, Deutschland und Peru. Dabei wird untersucht, wie sich der lokale zivilgesellschaftliche Aktivismus in der Pandemie entfaltet und Politik beeinflusst hat und wie sich die soziale Mobilisierung verschiedener Gruppen in unterschiedlichen Ländern und ihre politischen Auswirkungen vergleichen lassen. Das deutsche Teilprojekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziert und findet unter der Leitung der Professur für Global Health, Migration und Kulturwissenschaften in der Medizin (Prof. Dr. Michael Knipper) am Institut für Geschichte der Medizin in Gießen sowie in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Christiane Falge (Professorin für Gesundheit und Diversity an der Hochschule für Gesundheit in Bochum), Prof. Dr. Franziska Satzinger (Professorin für Global Health an der Hochschule Fulda) sowie der Professur für Kritische Stadtgeographie der Universität Münster (Prof. Dr. Iris Dzudzek) statt.
Die Trans-Atlantic Platform (T-AP) ist ein Zusammenschluss zwischen zentralen Forschungsförderern in Nord- und Südamerika und Europa auf dem Gebiet der Sozial- und Geisteswissenschaften. Im Frühjahr 2021 hat die T-AP eine internationale Ausschreibung zum Thema "Recovery, Renewal and Resilience in a Post-Pandemic World" veröffentlicht. Seit 2022 setzen sich 19 transatlantische Projekte, darunter fünf mit Beteiligung des BMBF, mit den mittel- und langfristigen Folgen der Corona-Pandemie aus geistes- und sozialwissenschaftlicher Perspektive auseinander. Die internationalen Projekte liefern Erkenntnisse über mögliche Ansätze zur Linderung negativer gesellschaftlicher Folgen der Corona-Pandemie.
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