Radikaler Islam versus radikaler Anti-Islam (RIRA): Interview mit Professorin Dr. Susanne Pickel

Vier Universitäten, acht Teilprojekte – der BMBF-Forschungsverbund „Radikaler Islam versus radikaler Anti-Islam“ (RIRA) hat vier Jahre lang zu den Dynamiken und Ursachen gegenwärtiger Radikalisierungsprozesse mit Bezug auf den Islam geforscht. RIRA-Projektleiterin Professorin Dr. Susanne Pickel bringt hier die vorläufigen Ergebnisse auf den Punkt.

Gruppenfoto der RIRA PIs

Gruppenfoto der RIRA PIs 

Susanne Pickel

Im Interview: RIRA-Projektleiterin Prof.‘in Dr. Susanne Pickel, Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen

Was sind die Kernergebnisse des RIRA-Projekts?

Radikalisierung findet oft in Bezug auf Gegen-, ja Feindgruppen als Radikalisierungsspirale statt.
Auf der einen Seite reicht die Radikalisierung bis hin zur extremen Rechten, auf der anderen Seite zum Islamismus. Menschen mit einer extrem rechten Einstellung beziehen sich in ihren Aktionen explizit auf Musliminnen und Muslime, während Islamistinnen und Islamisten oft die ganze nicht-muslimische Bevölkerung für ihre Diskriminierung verantwortlich machen.

Radikalisierung beginnt bereits auf der Ebene der Einstellungen von Bürgerinnen und Bürgern.
Einstellungen dienen sowohl als Nährboden für islamistische als auch für rechte Radikalisierung.

Antimuslimische Positionen und Einstellungen sind für die Radikalisierung zum Rechtsextremismus zentral. Die Zuschreibung von Islamismus gegenüber allen Muslimen liegt bei 44% der Befragten in Deutschland, und eine weit verbreitete Angst vor Musliminnen und Muslime (50%) bilden die Grundlage rechter Radikalisierung. Spüren Mitglieder der extremen Rechten Rückhalt in der Bevölkerung, dann steigt ihr Mut zu einer weiteren Radikalisierung, im schlimmsten Fall bis hin zur Gewaltanwendung.

Diskriminierungserfahrungen, aber auch religiöser Fundamentalismus fördern islamistische Radikalisierung. 55% der befragten Musliminnen und Muslime haben mindestens einmal eine Diskriminierung erfahren müssen und 44% leben in der Sorge, diskriminiert zu werden. Diskriminierungserfahrungen führen aber nicht auf direktem Wege in die Radikalisierung.

Bedrohungswahrnehmung und Diskriminierung fördern das Gefühl eines Kontrollverlustes über das eigene Leben. Fühlen sich Menschen durch Islamisten bedroht oder haben sie Diskriminierung aufgrund von Herkunft oder Religion erfahren, fördert dies die Wahrnehmung, die Kontrolle über das eigene Leben und über ihre individuelle sowie soziale Bedeutung zu verlieren.

Brückenideologien wie antisemitische Ressentiments oder die Ablehnung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt fördern Radikalisierung.

Radikalisierung ist kein automatischer Prozess. Radikalisierung muss nicht immer in eine Gewaltanwendung münden. In jeder Phase der Radikalisierung kann es zur De-Radikalisierung und einem Abstoppen der Radikalisierung kommen.

Eine Radikalisierung in den Extremismus zielt immer auf eine Abschaffung der Demokratie.
Zwischen Radikalisierung und Demokratieeinstellungen besteht eine enge negative Verbindung. Alle Formen der Radikalisierung untergraben die Legitimität der Demokratie (Anerkennungswürdigkeit als geltende normative Ordnung), das aktive Eintreten für die Demokratie und sie rufen illiberale Demokratievorstellungen hervor.

Welche Themen wurden auf Ihrer Abschlussveranstaltung am 27. Juni 2024 besonders intensiv diskutiert?

Auf der Abschlusstagung wurden insbesondere die Folgen von Bedrohungswahrnehmungen und die Lage an den Schulen diskutiert.

Diskriminierungserfahrungen führen nicht auf direktem Wege in die Radikalisierung. Werden Menschen in öffentlichen Institutionen (z. B. Polizei, Ämter) diskriminiert, stellt sich das Gefühl des Kontrollverlustes besonders häufig ein. Die eigene Gruppe wird zunehmend wichtiger, die diskriminierte Person zieht sich eher in die eigene Community zurück. Das Gefühl, durch Muslime bedroht zu werden, entsteht besonders dann, wenn man Muslime als nicht zur deutschen Gemeinschaft gehörig, sondern als Fremdgruppe definiert („Othering“) und die Verhaltensnorm der eigenen Gruppe konfrontatives Verhalten fördert.

Radikalisierung kommt vom Elternhaus in die Schule und muss dort bearbeitet werden. Zwei Drittel der von uns befragten Lehrerkräfte sagen, dass ihre Schülerinnen und Schüler islamistische, aber auch rechtsextreme Haltungen von zuhause mitbringen. 58% vermissten jegliche Kenntnisse über Demokratie. Radikalisierung findet auch in der Schule ihren Platz (18% nennen konkrete Konflikte von Musliminnen und Muslimen und rechten Jugendlichen). Interviews mit Jugendlichen zeigen, dass sie sich hauptsächlich über das Internet und eine gut zugängliche entsprechende Szene radikalisieren. Gelegenheitsstrukturen spielen eine wichtige Rolle für oder gegen eine Radikalisierung in der Jugend.

Wie geht es weiter?

Das Verbundprojekt RIRA wurde bis Ende November 2024 verlängert. In diesem Zeitraum wird das Manuskript für einen Abschlussband (open access) erstellt. Am 14. und 15. November 2024 findet an der Universität Osnabrück eine vom Kollegen Prof. Dr. Michael Kiefer organisierte internationale Konferenz zum Thema „Radikalisierung“ statt. Hier werden die Projektergebnisse vor internationalen Kolleginnen und Kollegen vorgestellt und mit diesen diskutiert.

Und wie werden die Ergebnisse in die Gesellschaft getragen?

Die vom Forschungsverbund RIRA entwickelten kollektiven Maßnahmen, Unterrichtseinheiten und Präventionstools wurden bereits auf dem Deutschen Praktiker Tag vorgestellt. Sie werden an Schulen eingeführt und in Schulbücher aufgenommen.

Unterrichtsmaterialen können Einstellungen verändern und Radikalisierung verringern. Immer noch finden sich in Schulbüchern Darstellungen von Musliminnen und Muslimen, die deren Fremdheit und potenzielle Gefährlichkeit ins Zentrum stellen. Dies erleichtert negative Haltungen und Vorurteile wie antimuslimischen Rassismus, die Nährboden für eine weitere Radikalisierung sind.

Unterrichtsformen können Einstellungen verändern und Radikalisierung verringern.
Demokratiestunden als interkollegiale Maßnahmen des gesamten Kollegiums und Interaktionsformat zur Stärkung demokratischer Selbstwirksamkeit der Schülerinnen und Schüler brechen hierarchische Organisationstrukturen und vermitteln gelebte Demokratie in der Schule auf Klassenebene. Sie dienen der Besprechung und Lösung klassenspezifischer und schulischer Angelegenheiten sowie gesellschaftlicher und politische Ereignisse. Insgesamt stärkt das Konzept die Präsenz des Individuums in der Demokratie.

Radikalisierung kann durch soziale Netzwerke und rechtzeitige Prävention gehemmt werden. An Pilotschulen durchgeführte Demokratiestunden sorgten für eine Deeskalation von Radikalisierungstendenzen. Verbessertes, individualisiertes und zeitgemäßes Lehrmaterial, besonders in einer persönlich ansprechenden Form (z. B. Podcasts), fördert das wechselseitige Verständnis und die Akzeptanz. Zudem finden sich deutliche Hinweise auf Lebensumstände, in denen Sozialarbeit der Radikalisierungsprävention vorzuziehen ist, etwa kritische Lebensereignisse oder Identitätsfindung in der Phase des Erwachsenwerdens.

Besten Dank für Ihre Zusammenfassung, Frau Professorin Pickel.

(Das Interview erfolgte schriftlich am 5. August 2024, Fragen: Katrin Schlotter)

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